Middlesex
Luce behandelte jeden: die jungen Mädchen mit einer Hautfalte am Hals, dem Ullrich-Turner-Syndrom - Mädchen, die nur ein Geschlechtschromosom haben, ein einsames X -, oder die langbeinigen Schönheiten mit Androgenresistenz oder die XYY- Jungen, die häufig Träumer und Einzelgänger sind. Wenn im Krankenhaus Kinder mit zwittrigem Genitale geboren wurden, rief man Dr. Luce, damit er die Angelegenheit mit den verstörten Eltern besprach. Auch Transsexuelle wandten sich an Luce. Jeder kam in seine Ambulanz, was zur Folge hatte, dass Luce eine Masse an Forschungsmaterial - lebenden, atmenden Exemplaren - zur Verfügung stand wie noch keinem Wissenschaftler vor ihm.
Und nun hatte Luce mich. Im Untersuchungszimmer angekommen, sagte er, ich solle mich ausziehen und einen Papierkittel überstreifen. Nachdem er mir Blut abgenommen hatte (Gott sei Dank nur ein Röhrchen), musste ich mich auf einen Tisch legen, die Beine auf Stützen. Ein blassgrüner Vorhang von derselben Farbe wie mein Kittel konnte quer über den Tisch gezogen werden, sodass meine obere von der unteren Hälfte getrennt war. An jenem ersten Tag zog Dr. Luce ihn nicht zu. Erst später, als Publikum da war.
»Das dürfte nicht wehtun, aber vielleicht fühlt es sich ein bisschen eigentümlich an.«
Ich starrte auf die Ringlampe an der Decke. An einem Ständer hatte Luce eine weitere Leuchte, die er nach Bedarf ausrichtete. Ich spürte ihre Wärme zwischen den Beinen, während er an mir drückte und stocherte.
In den ersten Minuten konzentrierte ich mich auf die runde Leuchte, aber dann senkte ich das Kinn und sah: Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt Luce den Krokus. Mit der einen Hand zog er ihn heraus, mit der anderen maß er ihn. Dann legte er das Lineal beiseite und machte sich Notizen. Er wirkte weder entsetzt noch abgestoßen. Vielmehr untersuchte er mich mit großer Wissbegier, fast Kennerschaft. Auf seinem Gesicht lag Ehrfurcht oder Wertschätzung. Im weiteren Verlauf der Untersuchung notierte er sich immer wieder etwas, doch er schwieg. Er war ganz und gar versunken.
Nach einer Weile, Luce kauerte noch immer zwischen meinen Beinen, drehte er den Kopf auf der Suche nach einem anderen Instrument. Zwischen meinen emporragenden Knien erschien sein gekringeltes, geflanschtes Ohr, ein erstaunliches Organ auch dies, durchscheinend in dem hellen Licht. Das Ohr kam mir sehr nah. Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als horche Luce an meiner Quelle. Als würde ihm zwischen meinen Beinen ein Rätsel aufgegeben. Aber dann fand er, wonach er gesucht hatte, und wandte sich mir wieder zu.
Er begann, mich innen zu untersuchen.
»Entspannen«, sagte er.
Er trug ein Gleitmittel auf und bückte sich noch mehr.
»Entspannen.«
In seiner Stimme lag leise Verärgerung, ein Befehlston. Ich holte tief Luft und entspannte mich, so gut ich konnte. Luce stieß hinein. Erst fühlte es sich nur eigentümlich an, wie er vorhergesagt hatte. Aber dann durchfuhr mich ein stechender Schmerz. Mit einem Aufschrei zuckte ich zurück.
»Entschuldige.«
Gleichwohl fuhr er fort. Er legte mir eine Hand aufs Becken, um mich zu beruhigen. Er drang tiefer ein, mied allerdings die Schmerzstelle. Tränen stiegen mir in die Augen.
»Fast fertig«, sagte er. Aber da fing er erst an.
In Fällen wie meinem war es oberstes Gebot, hinsichtlich des Geschlechts des betreffenden Kindes keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Man sagte zu den Eltern eines Neugeborenen nicht: »Ihr Kind ist ein Hermaphrodit.« Vielmehr sagte man: »Ihre Tochter wurde mit einer Klitoris geboren, die ein wenig größer als bei anderen Mädchen ist. Wir müssen sie operieren, damit sie die richtige Größe bekommt.« Luce hatte die Erfahrung gemacht, dass Eltern mit einer nicht eindeutigen Geschlechtszuweisung schlecht zurechtkamen. Man musste ihnen sagen, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen geboren hatten. Was bedeutete, dass man, bevor man überhaupt etwas sagte, sicher sein musste, welches das Geschlecht, das sich durchgesetzt hatte, war.
Und das konnte Luce bei mir noch nicht. Er hatte die Ergebnisse der endokrinologischen Tests erhalten, die im Henry Ford Hospital durchgeführt worden waren, und wusste daher von meinem XY-Karyotyp, meinem hohen Plasma- Testosteronspiegel und dem fehlenden Dihydrotestosteron in meinem Blut. Mit anderen Worten, bevor er mich überhaupt gesehen hatte, war Luce in der Lage, mehr als bloß zu vermuten, dass ich ein männlicher Pseudohermaphrodit war genetisch männlich,
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