Middlesex
Mädchen nie aus dem Rahmen gefallen. Noch heute fühle ich mich unter Männern nicht richtig wohl. Das Begehren hat mich auf die andere Seite getrieben, das Begehren, aber auch die Faktizität meines Körpers. Im zwanzigsten Jahrhundert hat die Genetik das altgriechische Verständnis von Schicksal bis hinein in unsere Zellen getragen. Dieses neue Jahrhundert jedoch, das gerade angebrochen ist, hat etwas dem ganz und gar Zuwiderlaufendes entdeckt. Wider alle Erwartungen ist der Code, der unserem Sein zugrunde liegt, jämmerlich unangemessen. Statt der erwarteten 200 000 Gene haben wir nur 30 000. Nicht viel mehr als eine Maus.
Und so tut sich eine eigenartige neue Möglichkeit auf. Kompromittiert, unbestimmt, skizzenhaft, aber nicht restlos ausgelöscht: Der freie Wille erlebt ein Comeback. Die Biologie gibt uns ein Gehirn. Das Leben verwandelt es in einen Verstand.
1974 in San Francisco jedenfalls arbeitete das Leben schwer daran, mir einen zu geben.
DA IST ER WIEDER: der Chlorgeruch. Unter dem nasal bedeutsamen Duft des Mädchens, das rittlings auf seinem Schoß sitzt, unterscheidbar sogar von dem buttrigen Popcorngeruch, der noch immer in den alten Kinositzen hängt, kann Mr. Go den unverwechselbaren Geruch eines Swimming pools ausmachen. Hier? Im Sixty-Niners? Er schnüffelt. Flora, das Mädchen auf seinem Schoß, sagt: »Magst du mein Parfüm?« Doch Mr. Go antwortet nicht. Mr. Go hat so eine Art, die Mädchen zu ignorieren, die er dafür, dass sie sich auf seinem Schoß winden, bezahlt. Am liebsten hat er es, wenn das Mädchen auf ihm mit den Beinen Schwimmbewegungen vollführt, während er einer anderen zusieht, wie sie auf der Bühne um die schimmernde Feuerwehrstange tanzt. Mr. Go verarbeitet mehrere Programme gleichzeitig. Heute Abend vermag er seine Aufmerksamkeit aber nicht zu teilen. Der Swimmingpoolgeruch lenkt ihn ab. Das tut er nun schon seit einer Woche. Den Kopf drehend, der unter Floras Übungen sanft wippt, schaut Mr. Go auf die Schlange, die sich vor dem Samtseil bildet. Die ungefähr fünfzig Kinositze hier im Show Room sind nahezu leer. In dem blauen Licht sind die Köpfe nur weniger Männer zu erkennen, einige von ihnen, mit Blick auf die Bühne, allein, ein paar mit einer Begleiterin, die auf ihnen reitet: den Peroxyd-Amazonen.
Hinter dem Samtseil steigt eine mit blinkenden Lichtern gesäumte Treppe auf. Um diese Treppe hinaufzugehen, muss man einen zusätzlichen Eintritt von fünf Dollar bezahlen. Gelangt man dann in den ersten Stock des Clubs, bleibt einem nur (so wurde Mr. Go berichtet), eine der Kabinen zu betreten, und in denen sind Marken einzuwerfen, die man unten für jeweils einen Vierteldollar erwerben muss. Tut man das alles, erhascht man kurze Blicke auf etwas, was Mr. Go nicht ganz versteht. Mr. Gos Englisch ist mehr als ausreichend. Er lebt seit zweiundfünfzig Jahren in Amerika. Doch aus dem Plakat, das für die Attraktionen oben wirbt, wird er nicht schlau. Aus diesem Grunde ist er neugierig. Der Chlorgeruch verstärkt das nur.
Trotz des Andrangs seit einigen Wochen ist Mr. Go noch nicht oben gewesen. Er ist dem Erdgeschoss treu geblieben, wo ihm für den Einheitspreis von zehn Dollar eine Reihe von Aktivitäten zur Auswahl steht. Mr. Go könnte, so es sein Wunsch wäre, den Show Room verlassen und in den Dark Room am Ende des Ganges gehen. Im Dark Room gibt es Taschenlampen mit Punktstrahlen. Dort kauern Männer, besagte Taschenlampen schwenkend. Wenn man sich weit genug hineindrängt, entdeckt man ein Mädchen, manchmal auch zwei, die auf einem mit Schaumgummi ausgelegten Podest liegen. Natürlich ist es in gewissem Sinn eine Sache des Glaubens, von der Existenz eines Mädchens auszugehen oder gar von zweien. Vollständig sieht man ein Mädchen im Dark Room nie. Man sieht nur Teile. Man sieht, was die Taschenlampe erleuchtet. Ein Knie beispielsweise, oder eine Brustwarze. Oder, was für Mr. Go und seinesgleichen von besonderem Interesse ist, man sieht den Born des Lebens, das Ding aller Dinge, gereinigt sozusagen, ohne das Durcheinander einer daran hängenden Person.
Mr. Go könnte auch einen Blick in den Ball Room riskieren. Im Ball Room sind Mädchen, die darauf brennen, mit Mr. Go langsam zu tanzen. Aber er macht sich nichts aus Discomusik, und in seinem Alter wird er auch recht schnell müde. Es ist zu anstrengend, die Mädchen gegen die gepolsterten Wände des Ball Room zu drücken. Viel lieber sitzt Mr. Go im Show Room auf den fleckigen Art-deco-Sitzen, die
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