Middlesex
eines davon war Zora. Ihr politisches Engagement bestand hauptsächlich in Lesen und Schreiben. Und während der Monate, die ich bei ihr wohnte, bestand es auch darin, mich zu erziehen, mich aus dem, was sie als meine große mittelwestliche Finsternis sah, herauszuholen.
»Du brauchst nicht für Bob zu arbeiten, wenn du nicht willst«, sagte sie zu mir. »Ich hau hier sowieso bald ab. Ich mach das nur vorübergehend.«
»Ich brauche das Geld. Sie haben mir mein ganzes Geld gestohlen.«
»Und deine Eltern?«
»Die will ich nicht bitten«, sagte ich. Ich blickte zu Boden und gestand: »Ich kann sie nicht anrufen.«
»Was ist passiert, Cal? Wenn ich dich das fragen darf. Was machst du hier?«
»Sie haben mich zu so einem Arzt in New York gebracht. Der wollte, dass ich mich operieren lasse.«
»Und dann bist du weggelaufen.« Ich nickte.
»Du kannst von Glück sagen. Ich hab's erst mit zwanzig ge wusst.«
Das alles geschah an meinem ersten Tag in Zoras Haus. Da hatte ich noch nicht angefangen, im Club zu arbeiten. Erst mussten meine Prellungen verheilen. Es erstaunte mich nicht zu sein, wo ich war. Wenn man so reist, wie ich es getan habe, ohne Ziel und festgelegte Route, gewinnt man eine heiligengleiche Offenheit. Das ist auch der Grund, warum die ersten Philosophen Peripate-tiker waren. Auch Christus. Ich sehe mich an jenem ersten Tag, wie ich im Schneidersitz auf einem gebatikten Bodenkissen saß, grünen Tee aus einem getöpferten Raku-Becher trank und mit meinen großen, hoffnungsfrohen, neugierigen, aufmerksamen Augen zu Zora aufblickte. Seitdem meine Haare kurz waren, wirkten meine Augen noch größer, mehr denn je wie die von jemandem auf einer byzantinischen Ikone, einer Figur, die, den Blick aufwärts gerichtet, auf einer Leiter in den Himmel steigt, während die Gefährten den fürchterlichen Dämonen anheim fallen. Hatte ich nach allen meinen Mühen nicht das Recht, eine Belohnung in Form von Wissen oder Offenbarung zu erwarten? In Zoras Haus mit den Wandschirmen aus Reispapier, durch dessen Fenster diesiges Licht drang, war ich wie eine leere Leinwand, die darauf wartete, mit dem, was Zora mir erzählte, gefüllt zu werden.
»Hermaphroditen hat's schon immer gegeben, Cal. Schon immer. Platon sagte, der erste Mensch war ein Hermaphrodit. Hast du das gewusst? Der erste Mensch bestand aus zwei Hälften, eine männlich, eine weiblich. Dann wurden sie getrennt. Deshalb sucht auch jeder nach seiner anderen Hälfte. Nur wir nicht. Wir haben schon beide.«
Von dem Objekt sagte ich nichts.
»Stimmt schon, in manchen Kulturen gelten wir als Missgeburten«, fuhr sie fort. »Aber in anderen ist es genau umgekehrt. Die Navajos haben eine Kategorie Mensch, die sie berdache nennen. Ein berdache ist im Grunde jemand, der ein Geschlecht annimmt, das nicht sein biologisches ist. Denk dran, Cal. Geschlecht ist biologisch, Gender ist kulturell. Die Navajos verstehen das. Wenn bei denen eine das kulturell bedingte Geschlecht wechseln will, lassen sie ihn gewähren. Und sie verunglimpfen diesen Menschen nicht - sie ehren ihn. Die berdaches sind die Schamanen des Stammes. Sie sind die Heiler, die großen Webenden, die Künstler.«
Ich war nicht allein! Von allem, was ich von Zora hörte, berührte mich das am meisten. Da wusste ich, dass ich eine Weile in San Francisco bleiben musste. Schicksal oder Glück hatten mich hierher geführt, und ich musste mir nehmen, was ich brauchte. Es war gleichgültig, was ich würde durchstehen müssen, um an Geld zu gelangen. Ich wollte einfach nur bei Zora bleiben, von ihr lernen und weniger allein sein auf der Welt. Ich war schon auf dem Sprung durch das Zaubertor jener drogengesättigten, überschäumenden, jugendlichen Tage. Bereits an jenem ersten Nachmittag ging der Schmerz an meinen Rippen zurück. Selbst die Luft schien zu brennen, entflammt von einer feinen Energie, wie in der Jugend eben, wenn die Synapsen wild drauflos schießen und der Tod in weiter Ferne ist.
Zora schrieb an einem Buch. Sie behauptete, es werde von einem Kleinverlag in Berkeley herausgebracht. Sie zeigte mir den Verlagsprospekt. Das Programm war eklektisch, Bücher über den Buddhismus, über den rätselhaften Mithraskult, sogar ein seltsames Buch (auch das ein Hybride), in dem Genetik, Zellbiologie und Hindumystik vermengt waren. Das, woran Zora arbeitete, hätte da gewiss hineingepasst. Aber mir war nie so richtig klar, wie konkret ihre Veröffentlichungspläne waren. Seither habe ich in all den
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