Middlesex
Jahren immer wieder nach Zoras Buch Ausschau gehalten, das Der heilige Hermaphrodit heißen sollte. Ich habe es nie gefunden. Wenn sie es nicht beendet hat, dann nicht, weil sie dazu nicht fähig gewesen wäre. Das meiste in dem Buch habe ich gelesen. In meinem damaligen Alter konnte ich literarische oder fachliche Qualitäten kaum beurteilen, doch Zoras Wissen war fundiert. Sie war tief in das Thema eingedrungen und kannte vieles davon auswendig. Ihre Regale waren voll mit Texten über Anthropologie und den Arbeiten französischer Strukturalisten und Dekonstruktivisten. Sie schrieb fast täglich. Sie breitete ihre Blätter und Bücher auf dem Schreibtisch aus, machte sich Notizen und tippte.
»Eine Frage habe ich«, sagte ich eines Tages zu Zora.
»Warum hast du es überhaupt erzählt?«
»Was meinst du damit?«
»Sieh dich doch an. Keiner würde es merken.«
»Ich möchte, dass die Leute es wissen, Cal.«
»Und warum?«
Zora schlug ihre langen Beine unter sich. Ihre Feenaugen, paisleyförmig, blickten blau und eisig in mich hinein, und sie sagte: »Weil wir das sind, was als Nächstes kommt.«
»Im alten Griechenland gab es einmal einen verwunschenen Teich. Dieser Teich war Salmakis geweiht, der Wassernymphe. Und eines Tages ging Hermaphroditos, ein bildschöner Knabe, dort schwimmen.«
An der Stelle senkte ich die Füße ins Becken. Während die Erzählung fortfuhr, schwenkte ich sie hin und her. »Salmakis' Blick fiel auf den hübschen Knaben, und sofort war ihre Lust entbrannt. Sie schwamm heran, um ihn genauer zu betrachten.« Nun senkte ich den Körper Zentimeter um Zentimeter ins Wasser: Schienbeine, Knie, Schenkel. Wenn ich das in dem Tempo tat, das Presto mir empfohlen hatte, schlossen sich jetzt die Bullaugen. Einige Kunden gingen, viele aber steckten weitere Marken in den Schlitz. Die Sichtblenden hoben sich von den Bullaugen.
»Die Wassernymphe versuchte sich zu beherrschen. Doch die Schönheit des Knaben war zu viel für sie. Schauen genügte nicht mehr. Salmakis schwamm näher, immer näher. Und dann, überwältigt von Begehren, fasste sie den Knaben von hinten und schlang die Arme um ihn.« Ich strampelte nun mit den Beinen und wühlte das Wasser auf, sodass die Kunden kaum noch etwas sehen konnten. »Hermaphroditos mühte sich nach Kräften, sich aus dem festen Griff der Wassernymphe zu befreien, meine Damen und Herren. Doch Salmakis war stark. So ungezügelt war ihre Lust, dass die beiden eins wurden. Ihre Körper verschmolzen, Mann in Weib, Weib in Mann. Und hier ist er, der Gott Hermaphroditos!« Woraufhin ich vollends ins Wasser sprang und alles von mir zeigte.
Und da gingen die Bullaugen wieder zu.
Hier verließ niemand die Kabine. Alle verlängerten sie ihre Mitgliedschaft beim Garden. Ich hörte unter Wasser, wie die Marken in die Gelddosen klackerten. Das erinnerte mich an zu Hause, wenn ich in der Wanne den Kopf unter Wasser hielt und das Klingen in den Rohren hörte. Ich versuchte, an derlei Dinge zu denken. Dadurch rückte alles von mir ab. Ich tat, als liege ich in der Middlesex in der Badewanne. Indessen füllten sich die Bullaugen mit Gesichtern, und in ihren Blicken lagen Staunen, Neugier, Ekel, Verlangen.
Bei der Arbeit waren wir immer stoned. Das war eine Grundvoraussetzung. Wenn wir unsere Kostüme anlegten, zündeten Zora und ich uns als Einstieg in den Abend immer einen Joint an. Zora hatte eine Thermosflasche mit Averna und Eis, den ich wie Kool-Aid trank. Das Ziel war ein Dämmerzustand, wie auf einem privaten Fest. Das ließ die Männer weniger real, weniger wahrnehmbar sein. Wenn Zora nicht gewesen wäre, ich wüsste nicht, was ich getan hätte. Unser kleiner Bungalow im Nebel zwischen den Bäumen, säuberlich umgeben von kalifornischen Kriechpflanzen, der winzige Koi-Teich voll mit Goldfischen aus dem Zoogeschäft, der Buddha-Schrein aus blauem Granit - das war eine Zuflucht für mich, eine Durchgangsstation, in der ich mich auf die Rückkehr in die Welt vorbereitete. Während dieser Monate war mein Leben ebenso gespalten wie mein Körper. Die Abende verbrachten wir im Sixty-Niners, lagen wartend am Bassin, gelangweilt, bekifft, kichernd, unglücklich. Aber man gewöhnte sich daran. Man lernte, sich dagegen zu imprägnieren und es aus den Gedanken zu verbannen.
Tagsüber waren Zora und ich immer nüchtern. Sie hatte von ihrem Buch schon hundertachtzehn Seiten geschrieben. Sie waren auf das dünnste Florpostpapier getippt, das ich je gesehen hatte. Daher war das
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