Middlesex
wieder hörte meine Großmutter zu:
»UND NUN WOLLEN WIR EINEN PHYSIOLOGISCHEN VERGLEICH ZWISCHEN DER WEISSEN RASSE UND DEM URSPRÜNGLICHEN VOLK ANSTELLEN. WEISSE KNOCHEN SIND, ANATOMISCH GESPROCHEN, BRÜCHIGER. WEISSES BLUT IST DÜNNER. DIE WEISSEN BESITZEN UNGEFÄHR EIN DRITTEL DER KÖRPERKRAFT DER SCHWARZEN. WER KANN DAS BESTREITEN? WAS SAGT EUCH DER EIGENE AUGENSCHEIN?«
Desdemona stritt mit dieser Stimme. Sie machte sich über Fards Verkündigungen lustig. Aber Tag für Tag breitete meine Großmutter dann doch gehorsam Seide vor dem Heizungsrost aus, um ihre Knie zu polstern. Sie kniete sich nieder, legte das Ohr an den Rost, ihre Stirn berührte beinahe den Boden. »Er ist doch bloß ein Scharlatan«, sagte sie. »Ist bloß auf Geld aus.« Trotzdem rührte sie sich nicht von der Stelle. Und schon dröhnten die neuesten Offenbarungen aus dem Heizungs schacht.
Was geschah da mit Desdemona? Geriet sie, die für eine tiefe priesterliche Stimme immer so empfänglich war, nun unter den Einfluss der körperlosen Stimme Fards? Oder wurde sie nach zehn Jahren in der Stadt einfach zur Detroiterin, was bedeutete, dass sie alles schwarz-weiß sah?
Noch etwas anderes ist denkbar. Könnte es nicht sein, dass die Schuldgefühle meiner Großmutter, jene dumpfe Malaria- Furcht, die ihr Inneres nahezu jahreszeitlich überschwemmte könnte dieses unheilbare Virus sie nicht schwach gemacht haben gegenüber Fards Appellen? Empfand sie, gequält von schlechtem Gewissen, Fards Anschuldigungen als gewichtig? Nahm sie seine rassischen Denunziationen persönlich?
Eines Abends fragte sie Lefty: »Glaubst du, mit den Kindern stimmt was nicht?«
»Nein. Mit denen ist alles in Ordnung.«
»Woher weißt du das?«
»Sieh sie dir doch an.«
»Was ist bloß los mit uns? Wie konnten wir das tun?«
»Mit uns ist gar nichts los.«
»Nein, Lefty. Wir« - sie fing an zu weinen - »wir sind keine guten Menschen.«
»Den Kindern geht's prächtig. Wir sind glücklich. Das liegt doch alles weit zurück.«
Doch Desdemona warf sich aufs Bett. »Warum habe ich nur auf dich gehört?«, schluchzte sie. »Warum bin ich nicht wie alle andern ins Wasser gesprungen!«
Mein Großvater wollte sie in den Arm nehmen, aber sie schüttelte ihn ab. »Fass mich nicht an!«
»Des,bitte...«
»Wäre ich doch nur in dem Brand gestorben! Ich schwör´s dir! Ich wünschte, ich wäre in Smyrna gestorben!«
Sie begann, ihre Kinder genau zu beobachten. Bislang waren sie mit einer Ausnahme - im Alter von fünf war Milton fast an einer Mastoiditis gestorben - beide gesund gewesen. Wenn sie sich schnitten, gerann ihr Blut. Milton hatte gute Noten in der Schule, Zoe überdurchschnittliche. Aber nichts davon konnte Desdemona beruhigen. Unablässig wartete sie, dass etwas geschah, eine Krankheit ausbrach, eine Abnormität sich zeigte, und fürchtete, dass die Bestrafung für ihr Verbrechen auf die verheerendste Weise überhaupt vollzogen werden würde: nicht an ihrer eigenen Seele, sondern an den Körpern ihrer Kinder.
Ich spüre, wie das Haus sich in den Monaten vor 1933 veränderte. Durch die dunkelbraunen Backsteine zog eine Kälte, verteilte sich in den Zimmern und blies das Nachtlicht aus, das im Flur brannte. Ein kalter Wind, der die Seiten von Desdemonas Traumbuch, das sie nach Interpretationen immer düsterer werdender Träume befragte, rascheln ließ. Träume von blubbernden, sich teilenden Kinderkeimen. Von scheuß lichen Wesen, die aus fahlem Schaum wuchsen. Nun mied sie die körperliche Liebe immer, sogar im Sommer, sogar nach drei Gläsern Wein an einem Namenstag. Nach einiger Zeit drängte Lefty sie nicht mehr. Meine Großeltern, die einst so unzertrennlich gewesen waren, hatten sich voneinander entfernt. Wenn Desdemona morgens zum Tempel Nr. 1 aufbrach, schlief Lefty noch, da er die Kneipe die ganze Nacht geöffnet gehalten hatte. Bevor sie wieder nach Hause kam, war er schon im Keller verschwunden.
Ich folge diesem kalten Wind, der im Altweibersommer 1932 ständig wehte, die Kellertreppe hinunter, und finde meinen Großvater eines Morgens beim Geldzählen. Von der Zuneigung seiner Frau ausgeschlossen, konzentrierte sich Lefty Stephanides auf die Arbeit. Sein Gewerbe hatte jedoch einige Veränderungen durchlaufen. Als Reaktion auf den Rückgang der Gäste in der Schummerkneipe hatte mein Großvater sich nach einer neuen Erwerbsquelle umgesehen.
Es ist ein Dienstag, kurz nach acht Uhr. Desdemona ist gerade zur Arbeit gegangen. Und im vorderen Fenster
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