Midkemia Saga 02 - Der verwaiste Thron
dünne Spitze. Unterhalb der Türme bogen sich Brücken durch die Wolken, verbanden sie miteinander, und noch weiter unten konnte man den Rumpf dieses einzelnen, unglaublichen Gebäudes sehen, das alles stützte, was er sah. Es war ein Ungetüm von Konstruktion, das sich meilenweit in jede Richtung erstreckte. Er hatte gewußt, daß es groß sein mußte – aufgrund seiner Gänge innerhalb –, aber dieses Wissen schmälerte seine Ehrfurcht nicht im geringsten, als er es jetzt vor sich liegen sah.
Noch tiefer, kaum daß er es noch erkennen konnte, entdeckte er das schwache Grün von Gras, ein schmaler Streifen, der den dunklen Körper des Gebäudes säumte. An allen Seiten sah er Wasser.
Das mußte der See sein, auf den er einmal einen Blick erhascht hatte. In der Ferne konnte er verschwommen eine Andeutung der Berge ausmachen. Aber wenn er sich nicht sehr anstrengte, um sie zu erkennen, war es, als wenn sich die gesamte Welt unter ihm erstreckte. Er stieg weiter hoch und umrundete dabei den Turm. Jeder Kreis ließ ihn etwas Neues bei der Aussicht entdecken. Ein einsamer Vogel schraubte sich hoch über alles empor. Er kümmerte sich nicht um die Angelegenheiten der Menschheit, sondern breitete seine scharlachroten Schwingen aus, um die Luft einzufangen, während sein scharfes Auge eifrig den See unterhalb beobachtete. Dann erspähte er ein vielsagendes Kräuseln auf der Wasseroberfläche, faltete die Schwingen zusammen und schoß hinab. Für den Bruchteil eines Augenblickes stieß er auf die Oberfläche und flog dann wieder empor, eine zappelnde Beute in den Krallen. Einen Siegesschrei ausstoßend, vollführte er einen Kreis und zog dann westwärts davon.
Eine neue Biegung. Windspiele. Jeder Windhauch brachte Bilder ferner und fremder Länder mit sich. Aus dem Süden kam eine Bö. Sie erinnerte an heiße Dschungel, wo Sklaven schufteten, um aus dem tödlichen, wasserbedeckten Sumpf neues Ackerland zu gewinnen. Eine Brise aus dem Osten trug den Siegesgesang eines Dutzend Krieger aus der Konföderation Thuril herbei. Sie hatten einige Kaiserreich-Soldaten geschlagen. Gleichzeitig war da aber auch das schwache Echo eines sterbenden Tsurani-Soldaten, der um seine Familie weinte. Aus dem Norden kam der Geruch von Eis und das Geräusch von Hufen, als Tausende von Thun über die gefrorene Tundra donnerten, südwärts, in Richtung auf wärmere Lande zu. Aus dem Westen erschallte das Lachen der jungen Ehefrau eines mächtigen Adligen. Sie versuchte soeben, einen halb entsetzten, halb erregten Wächter ihres Hauses dazu zu bringen, ihren Ehemann zu betrügen, der Geschäfte mit einem Händler in Tusan, im Süden, zu erledigen hatte. Aus dem Osten kam der Duft von Gewürzen, als die Händler auf dem Markt im fernen Yankora ihre Ware feilboten. Wieder zum Süden, und da herrschte der Geruch des Salzes aus dem Meer des Blutes. Im Norden gab es windgepeitschte Eisfelder, die noch kein menschlicher Fuß betreten hatte. Aber Wesen, die alt und auf eine den Menschen unbekannte Art weise waren, wanderten darüber hm, suchten nach einem Zeichen am Himmel – einem Zeichen, das niemals erschien. Jede Brise brachte einen Ton, eine Farbe, einen Schatten, einen Duft und einen Geschmack mit sich. Die Welt schwebte so an ihm vorbei, und er atmete sie tief ein, schwelgte darin und genoß es.
Eine Wendung. Von den Stufen unter ihm kam ein Pulsieren. Hier schlug die Welt mit ihrem eigenen Leben. Hinauf, durch das Eiland, durch das Gebäude, durch den Turm, die Spitze, ja, durch seinen Körper hindurch kam das drängende, ewige Schlagen des Herzens des Planeten. Er schlug die Augen nieder und sah tiefe Höhlen. In den oberen arbeiteten Sklaven, die die wenigen, seltenen Metalle bargen, die hier gemeinsam mit der Kohle für die Hitze und dem Stein für das Gebäude gefunden wurden. Darunter lagen andere Höhlen. Einige waren natürlich, andere die Überreste einer verlorenen Stadt. Staub war darübergeblasen und zu Erde geworden, als die Jahrhunderte verstrichen. Früher einmal hatten hier Kreaturen gehaust, die er sich nicht mehr vorstellen konnte.
Noch tiefer schaute er, in eine Region aus Hitze und Licht, in der Urmächte miteinander im Streit lagen. Flüssiger Fels, glühend und brennend, drang gegen seine festen Verwandten vor, suchte sich einen Weg nach oben, angetrieben von Mächten, die so ursprünglich waren wie die Natur selbst.
Und noch tiefer tauchte er hinab, in eine Welt der reinen Macht und Kraft. Hier liefen Adern von
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