Midnight Angel: Dunkle Bedrohung (German Edition)
mit Risiken verbunden, hatten sie gesagt. Aber die Medizin schritt bekanntermaßen schnell voran. Wenn die Methode im September noch experimentell gewesen war, mochte sie inzwischen gang und gäbe sein. Also würde sie sich verdammt noch mal gar nicht erst ans Blindsein gewöhnen. Nein.
Sie würde keine Blindenschrift lernen, keinen weißen Stock kaufen, keinen Blindenhund. Vor allem würde sie nicht ihr Haus umbauen.
Dafür stand sie jetzt völlig verloren im eigenen Wohnzimmer und wusste gerade mal, wo oben und unten war. Die Welt war ein schwarzes Loch.
In ihr wallte die beklemmende, unbezwingbare Angst auf, die sie mehrmals am Tag überfiel. Jedes Mal fühlte sie sich verloren und haltlos und weinte. Sie konnte nicht sehen.
Sie hatte oft Albträume, erinnerte sich aber kaum daran, wenn sie verweint und mit klopfendem Herzen hochschreckte. Manchmal träumte sie, zu ertrinken oder lebendig im Grab zu liegen oder verprügelt zu werden. Auf jeden Fall war es immer ganz entsetzlich.
Heute Abend hatte sie sogar einen Wachtraum gehabt, in dem sie ihren toten Vater gesehen hatte, zum ersten Mal. Das hieß, sie konnte darauf zählen, in der Nacht besonders schrecklich zu träumen.
Das alles stand sie völlig allein durch. Die bedrückende Stille im Haus und die Dunkelheit, das Stolpern, wenn sie vergessen hatte, etwas an die gewohnte Stelle zurückzuschieben, die Angst, nach draußen zu gehen.
Die Verzweiflung, wenn sie nach einem Albtraum in ewiger Dunkelheit aufwachte und nach dem Lichtschalter tastete, der ihr doch kein Licht bringen konnte.
Die Angst drohte sie zu überwältigen, während sie wie angewurzelt dastand. Sie wagte keinen Schritt, wagte kaum zu atmen. Etwas schnürte ihr die Brust ab, während ihr Herz wie wild flatterte.
Es würde eine schlimme Nacht werden, das war jetzt schon klar. Der Terror bei der Ausstellungseröffnung hatte ihre Kraftreserven aufgezehrt. Darum hatte sie im Wachzustand diesen Albtraum gehabt, hatte ihren Vater tot und blutig vor sich gesehen.
Ja, die Nacht würde schlimm werden.
Hinter ihr ließ die Tür einen Schwall kalter Luft herein. Sie hörte Douglas den Harfenkoffer abstellen. Er wählte instinktiv den richtigen Platz: vorne rechts neben der Tür. Schritte hinter ihr, sie wurde herumgedreht. Für einen so großen Mann bewegte er sich sehr leise, aber ihre Ohren waren auf leise Geräusche eingestellt.
Sie hörte sein Atmen, spürte seine Hitze.
Fast konnte sie seine Gedanken lesen. Er hatte sie nach Hause gebracht, die Harfe sicher abgestellt. Er hatte wenigstens noch eine halbe Stunde Fahrt vor sich, wahrscheinlich mehr, und das bei diesem Wetter. Er musste es eilig haben, aufzubrechen.
Plötzlich wusste sie, dass sie diese Nacht unmöglich allein bleiben konnte. Nicht diese Nacht. Das ging einfach nicht. Sie würde lieber sterben, als schweißgebadet und zitternd, mit einem Schrei in der Kehle, aufzuwachen. Allein im Dunkeln.
Lauschend versuchte sie, seine Position zu bestimmen, aber vergeblich. Sie rang die Hände und raffte ihren Mut zusammen. In der Hoffnung, mit fester Stimme sprechen zu können, überlegte sie, ob sie das Thema auf Umwegen ansprechen sollte. Aber sie schaffte weder das eine noch das andere. Ihre Angst war zu groß, als dass sie nach passenden Worten hätte suchen können. Was herauskam, war nacktes Flehen.
»Douglas, bitte lass mich heute Nacht nicht allein. Ich könnte das nicht durchstehen. Bitte .« Die Worte überschlugen sich, und ihre Stimme zitterte.
Sofort stand er vor ihr. Eine große Hand strich ihr übers Haar, dann zog er sie in seine Arme. Sie legte den Kopf an seine Brust, um die Vibration seiner Worte zu spüren.
»Nein, natürlich werde ich nicht gehen .« Er drückte sie an sich. »Heute Nacht bringen mich keine zehn Pferde hier weg .«
6
Bitte lass mich heute Nacht nicht allein.
Da stand Allegra mitten im Wohnzimmer, verloren und nass in seinem Jackett mit der Autodecke darüber, und hielt sich die Stofflagen mit einer Hand vor dem Körper zusammen.
Sie war totenbleich. Nur der Bluterguss an der Stirn stach dunkel hervor. Das glänzende rote Haar, das er so bewundert hatte, hing in wirren Locken über die Schultern. Das bisschen Make-up an ihr war längst verschwunden. Die grünen Augen waren ohne Wimperntusche, die Lippen blass.
Sie wirkte derangiert, verängstigt, elend.
Dabei war sie so schön, dass es in den Augen wehtat.
Kowalski drückte sie noch fester an sich. Er hatte die reine Wahrheit gesagt. Keine
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