Midnight Breed 02 - Gefangene des Blutes-neu-ok-10.11.11
nicht
einmal halb so alt war wie sie. Tess stand direkt hinter ihnen und versuchte
wirklich, nicht zuzuhören, sondern sich nur die elegante Skulptur, Cornacchinis Schlafenden Endymion, aus der Nähe anzusehen.
Sie kam sich wie eine
Hochstaplerin vor. Sowohl als Bens Begleiterin heute Abend als auch unter
diesen Leuten, reichen Sponsoren und Gönnern des Kunstmuseums, denen die
Veranstaltung eigentlich galt. Das waren eher Bens Kreise als ihre. In Boston
geboren, war Ben mit Kunstmuseen und Theater aufgewachsen.
Ihre kulturelle Bildung hatte
sich auf Landwirtschaftsmessen und das kleine Kino im Dorf beschränkt. Was sie
über Kunst wusste, war im besten Fall dürftig. Aber ihre Liebe zur Bildhauerei
war für sie immer schon so etwas wie eine Flucht aus ihrem Alltag gewesen,
besonders in den schweren Tagen daheim im ländlichen Illinois.
Damals war sie eine andere
Person gewesen. Teresa Dawn Culver kannte sich mit Hochstaplern aus, dafür
hatte ihr Stiefvater gesorgt, in jeder Hinsicht ein mustergültiger Bürger:
erfolgreich, freundlich, mit festen moralischen Grundsätzen.
Aber keine dieser Eigenschaften
traf wirklich auf ihn zu. Jetzt war er schon seit fast neun Jahren tot, und
auch ihre Mutter, von der sie sich entfremdet hatte, war vor Kurzem gestorben.
Was Tess anging, hatte sie diese
leidvolle Vergangenheit mit ihrem Umzug durch den halben Kontinent endgültig
hinter sich gebracht.
Wenn sie doch auch ihre
Erinnerungen loswerden könnte.
Das schreckliche Wissen, was sie
getan hatte …
Tess konzentrierte ihre Aufmerksamkeit
auf die eleganten Linien des Endymion. Als sie die Terrakottafigurine aus dem
achtzehnten Jahrhundert in sich aufnahm, begannen die feinen Härchen in ihrem
Nacken sich plötzlich aufzurichten. Hitze überströmte sie - nur sehr kurz,
aber intensiv genug, dass sie sich nach ihrer Quelle umsah. Aber da war nichts.
Die Gruppe tratschender Frauen ging weiter, und dann war Tess mit der Statue
allein.
Wieder warf sie einen Blick in
die Schauvitrine, ließ sich von der Schönheit des Kunstwerkes davontragen zu
einem Ort des Friedens und des Trostes, an dem ihre privaten Sorgen nichts zu
suchen hatten.
„Exquisit.“
Eine tiefe Stimme, mit einem
leichten, eleganten Akzent gefärbt, riss sie aus ihren Gedanken. Dort, auf der
anderen Seite des gläsernen Schaukastens, stand ein Mann. Tess sah in
whiskyfarbene Augen mit dicken, tuscheschwarzen Wimpern. Wenn sie schon dachte,
dass sie in dieser Nobelveranstaltung fehl am Platz wirkte, dann tat es dieser
Typ erst recht.
An die zwei Meter Dunkelheit
starrten sie mit falkenhaften Augen und einem ernsten Selbstbewusstsein an, das
fast schon bedrohlich wirkte. Er war ganz in Schwarz gekleidet, alles an ihm
war schwarz: die schimmernden Wellen seines Haares, die breiten Falten seines
Ledermantels, das hautenge Hemd, seine langen Beine, die offenbar in schwarzen
Drillichhosen steckten.
Trotz seiner unpassenden,
zwanglosen Aufmachung trug er ein Selbstbewusstsein zur Schau, als gehörte ihm
das Museum.
Er strahlte eine Aura von Macht
aus, auch wenn er einfach nur ganz ruhig dastand. Aus allen Ecken des Raumes
starrten Leute ihn an, nicht etwa verächtlich oder missbilligend, sondern mit
Ehrerbietung und einer respektvollen Vorsicht - die auch Tess nicht umhin
konnte zu fühlen. Sie merkte jetzt, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte,
und sah schnell wieder auf die Skulptur, um der Hitze seines unerschütterlichen
Blickes auszuweichen.
„Es ist - sehr schön“,
stotterte sie und hoffte inständig, dass sie nicht so aufgescheucht aussah, wie
sie sich gerade fühlte.
Unerklärlicherweise raste ihr
Herz, und der seltsame, prickelnde Schmerz seitlich an ihrem Hals war wieder
zurückgekehrt. Sie berührte die Stelle unter ihrem Ohr, wo nun ihr Puls
dröhnte, und versuchte, ihn wegzumassieren. Aber das Gefühl wurde nur noch
intensiver, es war wie ein Summen und Rauschen in ihrem Blut. Sie fühlte sich
aufgekratzt und nervös, sie brauchte frische Luft. Als sie zum nächsten Exponat
weitergehen wollte, kam der Mann um den Glaskasten herum und trat ihr in den
Weg.
„Cornacchini ist ein Meister“,
sagte er, der Name ein seidiges Grollen wie das Schnurren einer riesigen Katze.
„Ich kenne nicht alle seine Werke, aber meine Eltern zu Hause in Italien waren
große Kunstliebhaber.“
Italien. Das erklärte seinen
wunderbaren Akzent. Da sie nun keinen einfachen Abgang mehr machen konnte,
nickte Tess höflich. „Sind Sie schon lange in den
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