Midnight Breed 02 - Gefangene des Blutes-neu-ok-10.11.11
hatte sie immer abseits gehalten. Es hatte sie einsam
gemacht.
Tess sah auf ihre Hände, fuhr
zerstreut über das kleine Muttermal zwischen ihrem rechten Daumen und
Zeigefinger. Ihre Hände waren ihr Kapital und die Quelle ihres Schaffens. Als
sie jünger gewesen war, damals in Illinois, hatte sie modelliert und getöpfert,
wenn sie nicht schlafen konnte. Sie liebte das Gefühl von kaltem Ton, der sich
unter ihren Fingerspitzen erwärmte, den glatten Schnitt ihres Messers und das
langsame Auftauchen von Schönheit aus einem formlosen Klumpen Ton.
Heute Nacht hatte sie ihre alten
Töpfersachen aus dem Flurschrank hervorgeholt; die Kiste mit den
Modellierwerkzeugen und ein paar halb fertige Stücke standen in einem
Pappkarton neben ihr auf dem Boden. Wie oft hatte sie sich schon mit ihnen
zurückgezogen, um sich von ihrem Leben zu distanzieren? Wie oft waren der Ton,
ihre Messer und Modellierhaken ihre Vertrauten gewesen, ihre besten Freunde,
die immer für sie da waren, wenn es sonst nichts mehr gab, worauf sie bauen
konnte?
Tess’ Hände hatten ihrem Leben
eine Richtung gegeben, aber sie waren auch ihr Fluch und der Grund, warum sie
sich niemandem gegenüber wirklich ganz öffnen konnte.
Niemand durfte erfahren, was sie
getan hatte.
Erinnerungen drangen schmerzhaft
an den Rand ihres Bewusstseins - die wütenden Schreie, die Tränen, der Gestank
von Alkohol und der heiße, keuchende Atem, der ihr über das Gesicht fuhr. Das
panische Rudern ihrer Arme und Beine, als sie versuchte, den harten Händen zu
entkommen, die nach ihr griffen. Das Gewicht, das sich auf sie herabsenkte, in
diesen letzten Minuten, bevor ihr Leben zu einem Abgrund von Angst und Reue
geworden war.
Tess verbannte all das aus ihren
Gedanken, so wie sie es die ganzen letzten neun Jahre getan hatte, seit sie
ihre Heimatstadt verlassen hatte, um ein neues Leben zu beginnen. Um zu
versuchen, normal zu sein. Um irgendwie dazuzugehören, selbst wenn sie dafür
gezwungen war, ihr wahres Selbst zu verleugnen.
Atmet er noch? O mein Gott,
er läuft blau an! Was hast du mit ihm gemacht, du kleine Schlampe?
Die Worte kamen ihr so leicht in
den Sinn, die wütenden Anschuldigungen taten immer noch so weh wie damals. In
dieser Jahreszeit kamen die Erinnerungen immer zurück. Morgen - oder vielmehr
heute, denn es war schon nach Mitternacht
- war der Jahrestag. Heute vor
neun Jahren war ihr Zuhause zur Hölle geworden. Tess erinnerte sich nicht gern
daran, aber es war schwer, diesen Tag nicht zu registrieren, denn es war auch
ihr Geburtstag. Sie war jetzt sechsundzwanzig Jahre alt, aber sie fühlte sich
immer noch wie das verschreckte Mädchen, das sie mit siebzehn gewesen war.
Du bist eine Mörderin, Teresa
Dawn!
Sie stand von ihrer Couch auf
und schlurfte im Pyjama zum Fenster, zog den Laden hoch und ließ die kalte Nachtluft
über ihr Gesicht strömen. Von der Autobahn und auf der Straße unter ihrem Haus
summte der Verkehr, ab und an wurde gehupt, in der Ferne schrillte eine einsame
Polizeisirene. Der kalte Novemberwind fuhr durch ihr Moskitonetz und bewegte
die Stores und Vorhänge.
Schau, was du getan hast! Das
bringst du jetzt sofort wieder in Ordnung, verdammt noch mal!
Tess schob das Fenster weiter
auf und starrte in die Dunkelheit hinaus. Sie ließ sich von den Nachtgeräuschen
einhüllen, bis sie die Geister ihrer Vergangenheit zum Schweigen brachten.
13
„Jonas Redmond wird vermisst.“
Beim Klang von Elises Stimme
schaltete Chase den Monitor seines Computers ab und sah auf. Diskret, ohne dass
sie seine Bewegungen sehen konnte, ließ er das Messer, das er vor einigen Stunden
bei der Patrouille mit Dante eingesteckt hatte, in eine der Schubladen seines
Schreibtischs gleiten.
„Er ging letzte Nacht mit ein
paar Freunden aus, aber ist nicht mit ihnen zurückgekommen.“
Elise stand in der offenen Tür
seines Arbeitszimmers wie eine Verkörperung vollkommener Schönheit, selbst in
den formlosen weißen Trauergewändern, die sie schon seit fünf Jahren trug.
Die Tunika mit den weiten Ärmeln
und dem langen Rock umflatterte ihre zierliche Gestalt, der einzige Farbtupfer
war die Witwenschärpe aus roter Seide, die sie locker um die Hüften gebunden
trug.
Förmlich, wie sie war, würde sie
nie Chases Domäne ohne seine Einladung betreten. Er erhob sich von seinem Stuhl
und hielt ihr sie willkommen heißend die Hand entgegen. „Bitte, komm doch herein“,
sagte er und konnte den Blick nicht von ihr lösen, als sie über die
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