Midnight Breed 06 - Gesandte des Zwielichts-neu-ok-16.11.11
widersprechen. Er
hatte sie diskret bestrafen wollen, aber Reichen war vorbeigekommen und hatte
sie allein dort draußen in der Kälte entdeckt. Und dann hatte er doch
tatsächlich die Frechheit besessen, ihr seinen Mantel anzubieten und sie von
seinem Fahrer nach Hause bringen zu lassen - ohne Roths Erlaubnis.
Roth schäumte immer noch, wenn er nur daran
dachte. Er hatte auch damals geschäumt und auf eine Chance gewartet, Reichen in
seine Schranken zu verweisen. Diese Chance hatte sich ergeben, als Claire in
Hamburg angekommen war und fast jedem ledigen Stammesvampir der Region den Kopf
verdreht hatte, Reichen inklusive. Also hatte Roth abgewartet und beobachtet,
und als der passende Zeitpunkt gekommen war, hatte er seinen Männern befohlen,
sich um Reichen zu kümmern. Dann hatte er sich mit Elan der Aufgabe gewidmet,
der armen, niedergeschmetterten Claire beizustehen, die Scherben ihres
gebrochenen Herzens aufzusammeln.
Und als Sahnehäubchen dieser ohnehin äußerst
amüsanten Angelegenheit hatte er sie zu seiner Stammesgefährtin gemacht.
Oh, natürlich hatte er Ilsa töten müssen, um
freie Bahn zu haben, aber was war schon eine kleine Unannehmlichkeit gegen die
Befriedigung, Reichen ausgeschaltet und die Frau gestohlen zu haben, die er
liebte.
Er hätte nicht verblüffter sein können, als
Reichen später im selben Jahr in Berlin aufgetaucht war. Man musste dem
jüngeren Mann zugutehalten, dass er sich nach dieser bitteren Lektion von
Hamburg und von Claire fernhielt. Bis im letzten Sommer diese menschliche Hure,
Reichens neueste Geliebte, begonnen hatte, in Roths Angelegenheiten
herumzuschnüffeln.
Er hatte keine Lust gehabt, sich schon wieder
mit Reichen herumzuärgern, und so hatte er dem Dunklen Hafen von Berlin, wo er
mit seiner Sippe lebte, einen prompten Denkzettel geschickt. Er war schnell und
deutlich, aber nicht gründlich genug gewesen, denn Reichen hatte auch diesen
Angriff überlebt.
Roth schwor sich, dass ihm das nicht noch einmal
passieren würde.
Wenn ihm Andreas Reichen das nächste Mal unter
die Augen kam, war der Bastard endgültig fällig. Und wenn er Claire mit ihm
zusammen in den Tod schicken konnte, umso besser.
Angenehm sadistische Träumereien darüber, wie
genau er das bewerkstelligen würde, wirbelten in seinem Kopf herum, als
plötzlich das Handy in seiner Manteltasche klingelte.
„Sir?“
„Ich hoffe, Ihre Operation läuft wie geplant“,
sagte Dragos. Sein Tonfall provozierte Roth praktisch, ihn zu enttäuschen.
„Die Ablenkung ist völlig unter Kontrolle, Sir.
Genau wie ich es Ihnen versprochen hatte.“
Dragos grunzte. „Sorgen Sie dafür, dass es so
bleibt. Ich habe die Vorbereitungen hier fast abgeschlossen. Bald erhalten Sie
die neuen Zielvorgaben.“
„Ausgezeichnet, Sir“, sagte Roth. „Ich werde
den Plan durchführen wie besprochen und erwarte Ihre weiteren Anordnungen.“
16
Am nächsten Morgen verließ Claire mit ihren
restlichen Euros das Haus und fuhr in die Stadt, um das Geld zu wechseln und
ein paar Lebensmittel für sich und frische Sachen zum Anziehen für sie beide zu
besorgen. Reichen blieb zurück und versuchte, nicht zu paranoid zu sein
angesichts der möglichen Gefahren, die an jeder Straßenecke oder Gasse auf sie
lauerten.
Er hatte versucht, sie zu überreden, damit bis
zum Abend zu warten, wenn er sie begleiten konnte - nur für den Fall, dass es
unterwegs Schwierigkeiten gab.
Aber sie hatte ihn mit einem Blick zum
Schweigen gebracht und ihn allein in diesem riesigen, leeren Haus sitzen
lassen.
Er hatte vergessen, wie unabhängig sie war, und
irgendwie bewunderte er sie auch dafür, dass mehrere Jahrzehnte unter Roths
Fuchtel ihr nichts von ihrem selbstständigen Geist genommen hatten.
Aber Sorgen machte er sich trotzdem.
Er wusste, solange die Sonne alle Angehörigen
seiner Art nach drinnen verbannte, war sie vor Roth, Dragos oder jedem anderen
Stammesvampir in Sicherheit. Doch seine fürsorgliche Seite - der Teil von ihm,
der erst noch akzeptieren musste, dass er nun keinen Dunklen Hafen mehr leitete
und keine Verantwortung mehr trug, sein Zuhause und seine Familie vor Schaden
zu bewahren - konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Claire da draußen ohne
seinen Schutz unterwegs war. Sie war zu kostbar und zu anfällig in einer Welt
voller verborgener Gefahren. Sie war ein Schatz, der um jeden Preis erhalten
werden musste.
Und sie gehörte... nicht ihm.
Verdammt, daran musste er sich immer wieder
erinnern, besonders seit
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