Mieses Karma
Menschenabfällen
bestand: Hier ein Rest von einer Negerkusswaffel, dort ein Stückchen Schokolade, da ein halbes Karamellbonbon. Bei dem Anblick
fragte ich mich unwillkürlich: «Können Ameisen eigentlich Diabetes kriegen?»
Als wir das Gummibärchenteil abgelegt hatten, waren wir alle fix und fertig. Krttx führte uns zu unserem Schlafplatz in einer
Mulde nahe der Futterhalde. Der ganze Trupp fiel auf der Stelle um und begann zu schnarchen. Außer der jungen Ameise, die
ich im Tunnel angesprochen hatte.
«Ich bin Fss», sagte sie.
«Hallo, Fss, ich bin Kim», antwortete ich.
«Das ist wirklich ein bescheuerter Name», grinste sie.
«Sagt ausgerechnet jemand, der Fss heißt», erwiderte ich sauer. Diese Ameisen konnten einem ganz schön auf den Keks gehen.
«Du hast mich vorhin was gefragt», nahm Fss das Gespräch wieder auf.
Mit einem Mal war ich wieder munter. Und aufgeregt: «Ja, ich wollte wissen, ob du auch wiedergeboren bist.» Teilte diese junge
Ameise etwa mein Schicksal? Waren vielleicht alle Ameisen wiedergeborene Menschen? War ich nicht allein?
Sie schaute mich an, legte ihren Kopf ein bisschen zur Seite und überlegte. Lange. Und dann fragte sie voller Unschuld: «Was
ist das, ‹wiedergeboren›?»
Und meine Hoffnung war zerstört.
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|48| 10. KAPITEL
Allmählich kam die Ameisenstadt zur Ruhe. Das Surren, Wuseln und Sausen hatte sich gelegt. Das war also keine «City, that
never sleeps». Nur ich fand keinen Schlaf, egal wie sehr mein Körper auch danach lechzte.
So hatte ich mir den Tod nicht vorgestellt. Um genau zu sein: Ich hatte ihn mir gar nicht vorgestellt. Ich war zu sehr mit
meinem hektischen Leben beschäftigt. Mit unwichtigen Dingen (z. B. Steuererklärung), wichtigen Dingen (z. B. Karriere) und extrem wichtigen Dingen (z. B. Wellnessmassagen). Die letzte Wellnessmassage hatte ich genossen, während Alex mit Lilly auf dem Kindergartenfest alberne
Ostereiernester basteln musste …
Lilly! Mein Gott! Ich würde meine kleine Tochter nie mehr wiedersehen!
Ich musste heftig schlucken: Ich würde nicht erleben, wie Lilly ihren ersten Zahn der Zahnfee gibt. Nicht ihren ersten Schultag.
Nicht ihren ersten Kinobesuch. Nicht ihre erste Klavierstunde. Nicht ihre Pubertät … Okay, auf die konnte man vielleicht verzichten.
Aber auf den Rest nicht!
Lilly musste jetzt ihr Leben ohne mich leben.
Und ich meins ohne sie.
In diesem Augenblick merkte ich, dass auch Ameisen ein Herz haben.
Es lag genau hinter den Hinterbeinen, im dicken Hinterleib.
Und es tat beim Gedanken an meine Tochter höllisch weh.
Plötzlich durchschnitt ein Schrei die nächtliche Ruhe: «Haltet ihn!»
|49| Die Ameisen neben mir wachten langsam auf, irritiert. Oben in der dunklen, dank des durch die Tunnel fallenden Mondlichts
schwach beschienenen Erdkuppel erspähte ich den Grund für den Aufruhr: Eine männliche Ameise, die in einem Wahnsinnstempo
um ihr Leben flog. Verfolgt von einem Dutzend anderer Flugameisen. 4
Es war ein unglaubliches Spektakel.
Der Flüchtling wollte einen jener Tunnel erreichen, die vom Kuppeldach an die Erdoberfläche führten. Seine Verfolger versuchten
mit aller Macht, ihm den Weg abzuschneiden, doch er wich immer wieder aus, drehte Loopings und schlug Haken. Obwohl ich ihn
nicht kannte und auch nicht den blassesten Schimmer hatte, worum es ging, hoffte ich, dass er es schafft. Ich ahnte, dass
es ansonsten übel für ihn ausgehen würde.
«Sie kriegen ihn», sagte Krttx in einem Tonfall, der verriet, dass sie schon öfter dergleichen gesehen hatte.
Dabei sah es so weit ganz gut für den Fliehenden aus: Er kam dem rettenden Tunnel immer näher, bald würde er in ihm verschwinden.
Jetzt beneidete ich ihn richtig, hätte ich doch auch am liebsten Flügel gehabt. Mit ihnen hätte ich aus diesem mistigen Ameisenhaufen
fliehen können. Vielleicht sogar zu meiner kleinen Lilly.
Es waren nur noch Sekunden, bis der Flüchtling in dem Tunnel verschwinden würde, da schossen aus einer Kammer im Erdwall dreißig
weitere Flugameisen.
«Noch mehr Liebhaber der Königin», kommentierte Krttx. Ich überlegte kurz, was die Königin wohl mit all |50| diesen Lovern anstellt, merkte aber, dass ich das lieber gar nicht wirklich wissen wollte.
Die wütenden Jäger donnerten im steilen Formationsflug auf die flüchtende Ameise zu und schnitten ihr kurz vor dem Tunneleingang
den Weg ab.
«Jetzt wird er gekillt», sagte
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