Milano Criminale: Roman (German Edition)
diesem Abend früh die Straße. Kein Kunde weit und breit, selbst wenn sie sich gratis anböte. Die Stadt ist wie leergefegt, aber nicht etwa, weil jedermann ans Meer gefahren wäre. Trotz der drückenden Julihitze sitzen die Mailänder geschlossen zu Hause. Bei offenen Fenstern, ausgeschalteten Lichtern und laufendem Fernseher. Heute Nacht wird Geschichte geschrieben, und alle wollen dabei sein, deshalb kleben sie mit angehaltenem Atem und Quadrat-Augen vor den Bildschirmen und starren in die Sterne.
Während sie nach ihrem Haustürschlüssel kramt, brummt ein Taxi mit aufgedrehtem Radio durch die Stille; der Moderator hat sich für ein nicht mehr ganz neues Lied von Mina entschieden, Città vuota – Leere Stadt , als Omen und Mahnruf für diese Stunden des Wartens.
In der Questura herrscht eine unwirkliche Atmosphäre. Keiner brüllt, niemand wird in Handschellen durch die Flure geschleift, kein Telefon klingelt.
Santi, nach seiner Krankschreibung erst seit kurzem wieder auf dem Posten, verrichtet Büroarbeiten, bis das Bein vollständig geheilt ist. Quasi auf der Reservebank. Vor ihm auf dem Schreibtisch liegt ein Text zur Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung zum Kommissarslehrgang. Er hat nichts zu tun, keinen Bericht zu schreiben, also versucht er zu lernen; doch er kommt einfach nicht voran, ist wie jedermann mit den Gedanken woanders. Nach einer halben Stunde vergeblichen Mühens steht er auf und geht zu den Kollegen, die sich im Pressesaal versammelt haben.
»Heute Abend mal kein Restaurant«, verkündet Vandelli, der mit einer riesigen weißen Pappschachtel in der Hand hereinkommt. »Heute wird zu Hause geblieben und improvisiert. Du wirst sehen, es lohnt sich.«
Es ist unerträglich heiß, und Nina liegt nur mit Slip und BH bekleidet auf dem Sofa. Vandelli trägt ein beigefarbenes Seidenhemd und Leinenhose. Ihr Abendessen wird, außer den zwei eisgekühlten Flaschen Weißwein, eine Eistorte aus der Schachtel sein, so groß, dass sie kaum in den Kühlschrank passen würde.
Das Mädchen taucht sofort ihren Finger in die Sahne und schleckt ihn gierig ab, während sie Roberto in die Augen schaut. Er schenkt ihr keine Beachtung, sondern schaltet den Fernseher ein. Auch er ist ganz versessen darauf zu sehen, was da oben geschieht.
Die Fenster der Wohnung sind weit geöffnet, und die Metropole dort draußen ist wie gelähmt. Von der Straße klingt kein Geräusch von realen Menschen herauf, nur tausend Kommentatorenstimmen, die aus den Wohnungen dröhnen und über die leeren Bürgersteige hallen.
Carla liegt auf dem Bauch. Sie ist nackt, und winzige Schweißtropfen perlen auf ihrem glatten Rücken. Die Hand des Mannes fährt zärtlich über ihre weichen Formen. Der Fernseher läuft, der Ton ist abgeschaltet. Er betrachtet sie.
Der Literaturprofessor – Dreitagebart, zerzauste Locken, nackte Brust – hat gerade sein Bestes gegeben.
»Zwei Dinge beschäftigen mein Nachdenken immer anhaltender: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir .«
Das Kant-Zitat diente dazu, den Tanz zu eröffnen, das Bett zu zerwühlen und die Laken zu besudeln, während der Mann in dem kleinen, schwarz-weißen Rechteck seine Mission erfüllte. Der Professor versteht es, mit Worten umzugehen. Gebildet, ideenreich, weltgewandt und vor allem militant. Er pflegt stoisch seine Ideale und verführt Carla mit der hohen Kunst der intellektuellen Konfrontation. Anfangs zumindest. In ihm sah sie das Neue, die Leidenschaft. Die Zeit hat diese Flamme verzehrt, und nun reduziert sich alles auf die wenigen, dem echten Leben abgezweigten Stunden im Schlafzimmer des Professors.
»Dichtung, Magazine, kluge Romane: Alles wird nebensächlich, wenn der Mann sein Ziel erreicht hat.«
Das wird Carla in ebendiesem Moment klar. Nicht an ihr ist der Professor interessiert, zumindest nicht an ihr als Person, trotz all seiner Bemühungen, das Gegenteil glaubhaft zu machen. Sie interessiert ihn nur als Beute, als Eroberung zur Stärkung des eigenen Egos. Und da, zum ersten Mal, seit sie Antonio betrügt, fühlt sie sich schmutzig, am falschen Ort.
Sie fängt leise an zu weinen.
»Wir können uns nicht mehr sehen«, flüstert sie ihrem Geliebten ins Ohr. »Ich halte das nicht mehr aus. Ich liebe meinen Mann, und das hier ist nicht richtig.«
Dem Professor bleibt der Mund offen. Ausnahmsweise fällt ihm kein einziges kluges Zitat ein, während Carla sich eilig anzieht und die Wohnung verlässt. Für immer.
In der Zwei brennen
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