Milano Criminale: Roman (German Edition)
hat Santi beauftragt, an seiner Statt hinzugehen.
»Ich mag diese Zeremonien nicht«, hatte er gesagt. »Geh du doch mit deinem Mädchen. Ich bin mir sicher, dass ihr euch amüsiert.«
Der junge Polizeibeamte hatte sich bedankt. Auch er war gerne hier.
Erster November 1964, Allerheiligen.
›Wie oft wurde ich an diesem Tag, Ogni Santi , wegen meines Nachnamens auf den Arm genommen, alle Jahre wieder!‹, schießt es ihm durch den Kopf, doch dann vertreibt er den Gedanken: Immer positiv denken, heute ist ein großer Tag für Mailand, die Einweihung der ersten U-Bahn-Linie.
Es wird viel gelächelt dort an der brandneuen Haltestelle Piazzale Lotto. Die ersten zwei Waggons, blankpoliert und mit Fahnen geschmückt, warten auf die große und lärmende Menschenmenge aus Ehrengästen, Journalisten, Fotografen und Honoratioren der Stadt.
Auch im Zwischengeschoss hält das Durcheinander seit morgens um neun fast durchgängig an: Jedermann harrt ungeduldig auf die erste Fahrt mit der Metropolitana, diesem hochmodernen Verkehrsmittel, auf das Mailand seit Generationen gewartet hat.
Um Punkt zehn kommen der Bürgermeister, die Stadträte und der Rest der Bagage, und die offiziellen Feierlichkeiten können beginnen. Um zehn Uhr vierzig fahren die ersten beiden Züge los, nebeneinanderher, mal der eine vorne, mal der andere.
In der Tagespresse des folgenden Tages würde stehen, dass an diesem Sonntag innerhalb weniger Stunden mehr als zweihunderttausend Menschen in den weiß-roten Waggons mitgefahren sind. Selbst um Mitternacht sind die Bahnen noch voll mit unermüdlichen Fahrgästen, eine ausdrückliche Sympathiebekundung der Stadtbevölkerung gegenüber ihrer Metro.
Carla lächelt ihrem Antonio zu. Auch sie sitzen ganz vorne in einem der zwei Waggons: Die Jungfernfahrt ist wirklich eine großartige Sache, einmalig.
An jeder Haltestelle winken ihnen Arbeiter, Techniker, Schienenpersonal und alle, die letzte Hand an ihre U-Bahn und die Anlagen legen, ergriffen zu. Auf manchen Bahnsteigen stehen auch Musikanten der jeweiligen Mailänder Stadtviertel und unterlegen das Ereignis mit fröhlicher Musik. Auch die Sozialeinrichtungen der Stadt sind vertreten, an der Haltestelle Cadorna stehen die ›Mutilatini‹ von Don Gnocchi, am Dom die ›Stelline‹, und an Porta Venezia die ›Martinitt‹ und winken mit ihren Fähnchen den vorbeifahrenden Zügen hinterher.
An der Endstation Sesto Marelli, wo die Züge um Viertel nach elf ankommen, tauschen der Bürgermeister von Sesto San Giovanni und der Bürgermeister von Mailand einen herzlichen Händedruck, während die Musikkapelle die Nationalhymne spielt, dann den Triumphmarsch aus Aida , dann die Stadthymne O mia bella Madunina und schließlich das Lied, das extra von Maestro Giovanni D’Anzi für diese Gelegenheit komponiert wurde: Metropolì Metropolà . Doch das Fest ist noch lange nicht vorbei: Die Metro fährt nun in entgegengesetzter Richtung wieder los, in Richtung Zentrum.
Endlich findet Antonio einen Sitzplatz, er nimmt Carlas Hand und zieht sie mit sich, bis sie auf seinem Schoß sitzt.
»Als Kind, in der Schule, wurde ich immer der Chinese genannt, wegen meiner Schlitzaugen, habe ich das je erzählt?«
Sie nickt.
»Diesen Spitznamen habe ich jahrelang mit mir herumgetragen. Ich konnte nichts dagegen tun, alle nannten mich so. Im ganzen Viertel war ich der Chinese. Das war mein Los. Aber seit ich bei der Polizei bin, scheint es so, als wäre der Name in Vergessenheit geraten. Als hätte er sich in nichts aufgelöst. Seit Monaten hat mich keiner mehr so genannt, auch nicht versehentlich. Und weißt du, warum?«
Carla schüttelt den Kopf, während sie mit dem Zeigefinger die Konturen seiner Lippen nachfährt. Sie sieht jetzt aus wie ein kleines Mädchen.
»Weil ich keiner mehr von ihnen bin, sondern der Bulle: al comisàri , so reden sie über mich, wenn sie glauben, dass ich es nicht höre. Und soll ich dir was sagen? Das gefällt mir. Es gefällt mir, weil ich endlich einen Spitznamen habe, den ich mir selbst verdient habe, der mich irgendwie wiedergibt.«
Sie lächelt.
»Und weißt du, was mir auch noch das Gefühl gibt, vollständig zu sein?«
Carla wagt es nicht zu sagen. Ihre Augen glänzen, während er eine kleine Schachtel aus der Tasche zieht. Die Form ist eindeutig, der Inhalt ebenso.
»Du«, flüstert er und küsst sie.
Nun fehlt nur noch das letzte Puzzleteilchen, schon nähern sie sich der Haltestelle.
»Möchtest du mich heiraten?«, fragt
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