Milas Lied
meinen Teil wusste nicht, was an einem Wochenendhäuschen mit Bienenstock und Seeblick und Apfelbäumen grundsätzlich so verkehrt sein sollte, aber ich spürte auch, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, sie danach zu fragen.
Plötzlich stützte Mila sich auf und ließ sich vorsichtig an der Mauer hinuntergleiten.
»Mila, was machst du denn da?«, rief ich.
Schon berührten ihre Fußspitzen die Eisfläche und dann stand sie plötzlich auf dem Eis.
»Los komm, das macht Spaß!«, rief sie und tappte über den zugefrorenen Kanal.
»Ich bin doch nicht lebensmüde!«
»Man kann auch an Langeweile sterben!«, rief Mila und drehte sich um. Sie nahm Anlauf, schlitterte in die Mitte der Eisfläche, hob ein Bein und streckte die Arme zur Seite aus. Wahrscheinlich hatte jeder Schneemann mehr Grazie als eine Mila auf dem Eis. Sie sah so ulkig aus, dass ich lachen musste.
Ich schaute ihr eine Weile zu und dabei fiel mir auf, dass sie gar keine Kneipe brauchte, um auf einer Bühne zu stehen. Die Bühne war da, wo Mila stand.
Als wir uns später am U-Bahnhof verabschiedeten, wurde es schon dunkel. Ich traute mich nicht, Mila nach ihrer Telefonnummer zu fragen, und ich wollte ihr meine Nummer auch nicht aufdrängen. Ich wusste ja, wie sehr sie schicksalhafte Begegnungen mochte. Aber wiedersehen wollte ich sie trotzdem. Unbedingt.
»Sehn wir uns mal wieder?«, fragte ich also, bevor Mila als Pfefferminzwolke in der Dunkelheit verschwinden konnte.
»Bestimmt.«
»Ich arbeite nächsten Sonntag im Delirium . Vielleicht hast du ja Lust, vorbeizukommen? Werner ist natürlich auch herzlich eingeladen.«
»Mal sehen. Ja, vielleicht.«
Ich nickte und wusste, dass es Zeit war zu gehen.
»Na dann«, sagte ich verlegen und wusste nicht, ob ich Mila zum Abschied umarmen oder ihr die Hand geben sollte. Beides kam mir nicht richtig vor. Mila nahm mir die Entscheidung ab. Sie tänzelte rückwärts und hob die Hand.
»Tschüss, Rike. Komm gut nach Hause.« Sie drehte sich um und ging.
Ein »Ja, vielleicht« war immerhin mehr als ein Vielleicht, oder?
Anetschka, heute habe…
Anetschka, heute habe ich nur für dich gespielt. Weil doch dein Geburtstag ist. Ich habe es nicht vergessen. Wie könnte ich? Ob dir jemand einen Schneekuchen gebacken hat? Ich hoffe sehr! Ist meine Karte rechtzeitig angekommen? Telefonieren ist immer so teuer.
Du wärest stolz auf mich gewesen. Ich habe zum ersten Mal ein eigenes Lied gesungen. Es hat den Leuten gefallen. Und natürlich die alten Sachen von Sokoly . Das Geld reicht mindestens für ein paar Schawarma bei Fatih und einen neuen Satz Gitarrensaiten. Ich glaube, ich habe sogar meinen ersten richtigen Fan! Er wollte gleich wissen, ob ich eine CD habe und wo er mich das nächste Mal hören kann.
Ich habe das Gefühl, ich bin auf dem richtigen Weg. Ich hoffe, du findest bald auch deinen. Tausend Küsse, deine kleine Milotschka.
Donnerstagnachmittag schrieb ich…
Donnerstagnachmittag schrieb ich meine erste Mail mit hoher Dringlichkeitsstufe. An Mimi. Wir mussten eine Hausarbeit zu unserem Referat schreiben und wollten noch absprechen, wie wir die Aufgaben verteilten, doch Mimi hatte sich am Montag nicht in Borchardts Kurs blicken lassen. Vielleicht hoffte sie, dass unser Auftritt so leichter in Vergessenheit geraten würde ebenso wie der Umstand, dass sie ein Teil dieses Auftritts gewesen war. Die Schelte für unsere misslungene Darbietung musste ich Montagmorgen also allein über mich ergehen lassen, was ich reichlich unfair fand, denn natürlich genoss es der Haifisch über alle Maßen, mich noch einmal vor versammelter Mannschaft zu demütigen.
Auf meine letzten beiden Mails hatte Mimi nicht reagiert und an ihr Handy ging sie auch nicht. Sorgen brauchte ich mir aber nicht um sie zu machen, denn dank eines hervorragenden Spionageinstruments wusste ich, dass sie seit neunzehn Stunden in einer Beziehung wa r – was dreizehn Personen gefie l – vor zwei Stunden megaglücklich wa r – was vier Personen gefie l – und vor siebenundzwanzig Minuten festgestellt hatte, dass das Leben doch etwas ganz, ganz Tolles is t – was bisher noch keinem gefiel.
Ich drückte den Gefällt-mir-Button und ging in die Küche, um mir einen Kakao zu kochen. Kurz darauf klingelte es an der Tür. Ich schlurfte über den Flur und drückte den Summer. Wahrscheinlich war es irgendein Kumpel von Theo oder die Post.
Ich wartete ungeduldig an der Tür, weil ich die Milch auf dem Herd stehen gelassen hatte, als
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