Milas Lied
hinunterbrausten, musste ich ein bisschen schmunzeln und dachte an Hannah. Unsere erste gemeinsame Abfahrt auf einem Schlitten hatte mit zwei geprellten Steißbeinen geendet, weil wir den Jungs in unserem Dorf unbedingt was beweisen wollten. Wir hatten nicht gesehen, dass unser Schneehügel abrupt in einer Rampe endete, und krachten am Schluss einen Meter tief auf blankes, hartes Holz. Bis zu jenem Tag wusste ich nicht mal, dass ich ein Steißbein besaß und wozu ich es brauchte. Jetzt weiß ich es: für Vorwärts- und Rückwärtsrollen. Wie gut, dass ich Sportunterricht und Bodenturnen hinter mir gelassen hab e – und Jungs, denen ich was beweisen will.
Mila schien die rodelnden Kinder genauso lustig zu finden wie ich. Jedenfalls lächelte sie immerzu vor sich hin, ohne was zu sagen. Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während ich neben ihr über den platt getrampelten Schnee lief, und sagte auch nichts. Es war schön, Mila einfach nur anzusehen, und außerdem war der Wind fiel zu eisig, um ihn in meinen Mund zu lassen.
Ohne Vorwarnung bog Mila auf ein Stück Wiese ab, bückte sich und hob ein Häuflein Schnee auf. Sie zerknautschte es zwischen ihren Handschuhen zu einer kleinen Kugel, die sie mir triumphierend entgegenstreckte.
»Das wird der Kopf«, sagte sie, setzte ihren Rucksack ab und begann, den kleinen Schneeball quer über die verschneite Wiese zu rollen. Schnell wurde die Kugel größer und ich wusste, was ich zu tun hatte. Bald rollten wir unsere Kugeln um die Wette und nach einer Weile war meine so groß, dass ich mich heftig dagegenstemmen musste, damit sie sich überhaupt noch vorwärtsbewegte. Bester Berliner Pappschnee.
»Sag mal«, japste ich, als Mila ihre Kugel gerade an mir vorbeikullerte, »du sprichst echt gut Deutsch. Manchmal höre ich nicht mal einen Akzent.«
»Ja«, japste Mila zurück. »Sachen, die mir gefallen, merke ich mir immer schnell. Ist wie mit der Musik.« Sie setzte sich vorsichtig auf ihre Kugel, die bald der Kopf eines Schneemannes sein würde. »Ich hatte sieben Jahre Deutsch in der Schule. Früher wollte ich unbedingt Deutschlehrerin werden. Es ist so eine schöne Sprache. Kennst du Rilke?«
»Den Dichter?« Ich stützte mich auf meine Kugel, um kurz zu verschnaufen.
»Du musst das Leben nicht verstehen, dann wird es werden wie ein Fest« , sagte Mila und klaubte ein Häuflein Schnee von der Wiese.
»War das jetzt Rilke oder Mila?«, fragte ich verdutzt.
»Und lass dir jeden Tag geschehe n … so wie ein Kind im Weitergehe n … von jedem Wehe n … sich viele Blüten schenken lässt.«
Ich sah Mila staunend an und schaute zu, wie sie geistesabwesend den Schnee in ihrer Hand zerdrückte.
»Wow«, murmelte ich und im nächsten Augenblick hatte ich einen Schneeball im Gesicht.
»Hey, du Hexe!«, rief ich und ging hinter meiner Kugel in Deckung.
»Sie aufzusammeln und zu sparen, das kommt dem Kind nicht in den Sinn« , hörte ich Mila trällern. Als ich hinter meiner Kugel hervorlugte, zischte auch schon der nächste Schneeball an meinem Ohr vorbei. Mann, dieses Mädchen konnte echt gut werfen!
»Na warte!«, rief ich, formte einen Schneeball, sprang hinter meiner Kugel hervor und ging zum Gegenangriff über. Mila war schon losgerann t – ich hinterher. Wir jagten und rutschten über die halbe Wiese, immer um unsere Kugeln herum, Mila quietschte vor Vergnügen und bückte sich nach neuem Schnee. »Sie aufzusammeln und zu sparen« , stieß sie noch einmal außer Atem hervor, »das kommt dem Kind nicht in den Sinn.«
In diesem Moment warf ich und traf Mila an der Schulter.
»Tschort!« , rief Mila lachend, blieb stehen und klopfte sich den Schnee von Schulter und Mütze. Dann drehte sie sich zu mir um und grinste mit feuerroten Bäckchen ihr schelmischstes Mila-Grinsen.
»Es löst sie leise aus den Haare n … drin sie so gern gefangen ware n … und hält den lieben jungen Jahre n … nach neuen seine Hände hin.«
Dann zeigte sie mir ihre Handflächen und hob sie über den Kopf als Zeichen der Kapitulation.
»Schön, oder?«, fragte sie. »Das Gedicht.«
»Kannst du’s mir noch mal vortragen, wenn ich gerade keinen Schnee im Ohr habe?«
»Ja«, sagte Mila und stapfte ans andere Ende der Wiese.
Die dritte Kugel rollten wir zusammen und schoben sie ächzend und kichernd zu den anderen beiden. Mit vereinten Kräften setzten wir die Kugeln aufeinander und ließen uns erschöpft in den Schnee plumpsen.
»Aber du singst auf Russisch«, sagte ich nach
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