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Milas Lied

Milas Lied

Titel: Milas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Keil
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einer Weile.
    »Ich träume auch auf Russisch.«
    »Und fluchst auf Russisch«, fügte ich hinzu.
    »Meine Lieder sind mein Zuhause«, sagte Mila nach einer Weile. »Es würde mir komisch vorkommen, sie in einer anderen Sprache zu singen. Aber wer weiß, vielleicht singe ich bald mal etwas auf Deutsch.«
    »Hm. Du könntest ja Rilke vertonen.«
    Mila schwieg. »Er kann noch gar nichts sehen«, sagte sie plötzlich.
    »Was?«
    »Der Schneemann. Er sieht gar nichts.« Mila schaute zu der unförmigen obersten Kugel empor. Dann kramte sie in ihren Jackentaschen und förderte ein paar dunkelbraune, schrumpelige Kastanien zutage.
    »Die sind aus dem Garten meiner Oma«, erklärte sie stolz, stand auf und steckte unserem blinden Schneemann zwei Kastanien in den Kopf. Von nun an würde er die Welt aus Milas Augen betrachten können.
    Ich stellte mich neben sie und formte dem Schneemann ein paar schöne große Schneeohren. Dann fing Mila an, die Wiese abzusuchen. Nach einer Weile kam sie zurück und steckte dem Schneemann eine pinkfarbene Pappröhre an.
    »’ne Silvesterrakete«, sagte ich.
    »Eine Nase«, verbesserte mich Mila, trat einen Schritt zurück und betrachtete unser Werk. »Hübsch«, sagte sie zufrieden.
    »Ja, wunderhübsc h … Aber braucht er nicht noch einen Mund?«
    »Er ist ein Mann «, entgegnete Mila streng.
    »Ja, und?«
    »Männer reden nie. Oder nur Blödsinn.«
    Ich schaute Mila verblüfft an und dann prusteten wir los vor Lachen.
    »Ich glaube, ich weiß sogar, was er für ein Sternzeichen ist«, gluckste Mila und versuchte krampfhaft, ein ernstes Gesicht zu machen.
    »Echt?« Ich sah Mila erwartungsvoll an.
    »Na klar!« Sie musterte den Schneemann noch einmal von oben bis unten, schaute ihm tief in die Kastanienaugen und strich ihm über den dicken Bauch. »Wassermann.«
    Später saßen wir am Landwehrkanal, der komplett zugefroren war. Mila hatte eine Decke mitgebracht, die wir auf die Steinmauer legten, eine Thermoskanne und sogar eine Extratasse für mich. Sie goss mir Tee ein, der nach Äpfeln und Zimt duftete. Meine klitschnassen Handschuhe hatte ich ausgezogen, um mir an der Tasse die Finger zu wärmen. Mila schien die Kälte kaum etwas auszumachen.
    Ich erinnerte mich, dass es im Spätherbst am Kanal von Leuten nur so gewimmelt hatte. Jetzt teilten Mila und ich uns die Uferpromenade mit ein paar Joggern.
    »Was ist eigentlich mit diesem Theaterstück, von dem du erzählt hast?«, fragte ich.
    »Ach, eigentlich hätten die Proben längst beendet sein sollen«, antwortete Mila mit genervtem Unterton. »Aber das ist ein Haufen fauler Hippies.«
    Ich musste schmunzeln, dieses Wort ausgerechnet aus Milas Mund zu hören, denn ich konnte mir Mila in einem Haufen Hippies eigentlich sehr gut vorstellen. In einem Haufen fleißiger Hippies vielleicht.
    »Sie reden immer viel«, fuhr Mila fort, »aber sie kiffen und trinken auch viel. Und dann mussten die Proben ständig verschoben werden, weil irgendeiner nicht auftauchte. Oder wir haben diskutiert, anstatt zu proben. Da bin ich ausgestiegen. Das habe ich alles schon mal erlebt. Darauf habe ich keine Lust mehr. Ich will Musik machen.«
    »Aber du darfst weiter bei ihnen wohnen?«
    »Ja, noc h … Ist doch nicht meine Schuld, dass alles so gekommen is t …«
    »Und du hast in Rostow auch schon Musik gemacht?«
    »Ja, in einer Punkband«, verkündete Mila nicht ohne Stolz. » Sokoly . Wir waren echt gut. Na j a … wir hätten gut werden können. Seit ich vierzehn war, habe ich mit denen Musik gemacht, ich dachte wirklich, wir könnten es zu etwas bringen. Aber die Jungs haben irgendwann lieber Wodka gesoffen, als zu proben. Und Serjosch a … der Bassist war am schlimmsten von allen. Der beste Musike r … Tja, nun muss ich eben alleine berühmt werden.« Mila durchbohrte die Eisschicht zu unseren Füßen mit trotzigen Blicken. »Ich weiß, ich kann das schaffen.«
    »Hast du Sehnsucht nach zu Hause?«
    »Zu Hause?«, erwiderte Mila unwirsch.
    »Ic h … ich dachte ja blo ß …«
    »Wo ich Musik machen kann, da bin ich zu Hause. Wo mir neue Lieder einfallen.«
    »Abe r …«
    »Was soll das überhaupt sei n – Zuhause? Ein Punkt auf der Landkarte? Ein Haus? Eine Wohnung? Ein Zimmer? Ein Wochenendhäuschen mit riesigem Grundstück vielleicht? Frag doch mal meine Schwester Anna, wie glücklich dich so ein Wochenendhäuschen mit Bienenstock und Seeblick und Apfelbäumen macht.« Mila redete sich in Rage und mehr mit sich selbst als mit mir. Ich für

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