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Milchbart (German Edition)

Milchbart (German Edition)

Titel: Milchbart (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Spitzendecke auf dem Tisch. Fanni erinnerte sich, eine ganz ähnliche auf einer Kommode (Chippendale-Imitation) in der Parkklinik gesehen zu haben. Exakt im Zentrum des blütenweißen Vierecks befand sich etwas, das sich zweifelsfrei als Schmuckschatulle identifizieren ließ.
    Nicht der kleinste Hauch von Gewissensnot hinderte Fanni daran, kurzerhand den Deckel zu öffnen, und unversehens lag – auf ein winziges Samtkissen drapiert – der Ohrring, den sie tags zuvor verloren hatte, vor ihren Augen.
    »Es ist nicht ganz das, wonach es vermutlich aussieht.« Tillman trat in den Schuppen. Er griff nach der Schatulle und nahm sie mit hinaus ans Licht. Fanni und Sprudel eilten ihm nach.
    »Michaela hat eine schwierige Therapie hinter sich«, Tillman war ein Stück abseits der Scheune auf einem sonnenbeschienenen Grasfleck stehen geblieben, »aber auch so etwas wie einen Durchbruch erlangt.«
    Die verwirrten Mienen, die Fanni und Sprudel daraufhin sehen ließen, bewogen ihn dazu, näher auf das Thema einzugehen. »Meine Mutter hat bei der Behandlung von Zwangsneurosen mit einer schrittweisen Therapieform gearbeitet, die darauf fußt, dass sich der Patient anfangs nicht völlig von seinem Zwang befreien muss. Man erlaubt ihm quasi, eine Zeit lang auf Krücken zu gehen. Michaela beispielsweise durfte zwar nicht mehr klauen, aber sie durfte behalten, was sie wo auch immer fand, und es in ähnlicher Weise horten, wie sie es früher mit ihrem Diebesgut gemacht hat.«
    In Tillmans Stimme schwang eine Spur von Heiterkeit mit, als er fortfuhr: »Der Professor war von dieser Herangehensweise begeistert. ›Das ist ein Meilenstein‹, hat er immer gesagt, wenn das Gespräch auf Mamas Methode kam, ›sowohl für die Patienten als auch für uns.‹ Aber auch ganz allgemein war der Professor von Mamas Arbeitsweise angetan und hat sogar einige Male bei ihren Sitzungen hospitiert.« Er stellte die offene Schatulle auf einen Baumstamm, den er offenbar zurzeit in Arbeit hatte, denn auf einer umgestülpten Kiste daneben lagen verschiedene Meißel, Hämmer und ein Hobel.
    Ein halb fertiges Schraubenmännchen auf dem Tisch, eine angefangene Operation an einem Holztrumm – der Junge scheint mir ein wenig unstet zu sein!
    »Alles, was sich in dieser Kassette hier befindet«, sagte Tillman, »hat Michaela im Park, irgendwo in der Klinik oder auf der Straße gefunden. Sehen Sie.« Er nahm den Ohrring heraus und legte ihn auf den Stamm. Dann griff er nach einem goldfarbenen Jackenknopf. Nach kurzer Zeit lagen gut zwei Dutzend Gegenstände aus der Schatulle aufgereiht da. Es schien sich tatsächlich um Fundsachen zu handeln. Einige waren offenbar stark verschmutzt gewesen und gesäubert worden, denn in Rillen und Vertiefungen befanden sich noch dunkle Rückstände, während die glatten Flächen glänzten wie frisch poliert.
    Fannis Blick wanderte über diverse Münzen, verhielt bei einer hübsch ziselierten Gürtelschnalle, streifte eine Sonnenbrille von Gucci (leider sehr verbogen), verharrte bei einem Aquamarin (eindeutig aus seiner Fassung gebrochen). Sie wollte sich gerade von Michaelas Fundstücken abwenden, da entdeckte sie den Engel. Er lag ganz am Ende der Reihe in eine Furche im Holz geschmiegt. Fanni griff danach und legte ihn auf ihre Handfläche.
    Er könnte es sein!
    Er ist es, dachte Fanni. Engel dieser Fasson findet man nicht an jeder Ecke.
    Alexanders Talisman war aus perlmuttartigem Material und hatte dreieckige Flügel aus Silberdraht. Den Kopf bildete ein Glaskügelchen, über dem ein winziger Heiligenschein schwebte.
    Sie betrachtete das Figürchen eine Weile versonnen, dann legte sie es an seinen Platz zurück und wandte sich an Tillman, der ihr interessiert zugesehen hatte.
    »Es tut mir leid, dass wir in Ihrer Scheune herumgeschnüffelt haben. Wir müssen recht ungehobelt auf Sie wirken.«
    Tillman wurde einer Antwort enthoben, weil sein Handy wieder »We All Live In A Yellow Submarine« dudelte.
    Nachdem er daraufhin erneut im Haus verschwunden war, bettete Fanni alle Gegenstände – auch den Ohrring und den Engel – in die Schatulle und brachte sie in den Schuppen zurück.
    Als sie wieder herauskam, sagte Sprudel: »Ich dachte, wir haben unterwegs den Waldboden abgesucht, weil du den Ohrring wiederfinden wolltest.«
    Fanni lächelte ihn an. »Stimmt. Und soeben haben wir ihn gefunden.«
    Sprudel kniff ratlos in seine Wange.
    Nun erklär es ihm schon!
    Fanni nahm seine Hand, die auf der Wange ein rotes Mal

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