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Milchbart (German Edition)

Milchbart (German Edition)

Titel: Milchbart (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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Aussehen eines livrierten Dieners aus der Augsburger Puppenkiste verliehen. Auf einem umgestürzten Baumstamm, von dem längst die Rinde abgebröckelt war, saß eine stilisierte Katze aus Drahtgeflecht, und vor einem der Fenster war ein ausgebleichter, glatt geschmirgelter, filigran wirkender Zweig auf derart kunstvolle Weise angebracht, dass das Gebilde den Eindruck erweckte, eine Elfe oder Waldnymphe würde dort herumschweben.
    Offenbar hatte Tillman Bogner das bisschen Nachmittagssonne genutzt und seinen Arbeitsplatz nach draußen verlegt. An der Hausmauer, wo es windgeschützt war, stand ein alter Tapeziertisch, auf dem Werkzeuge, Metallteile, Drahtrollen und eine Lötlampe lagen.
    Jede Menge Schrauben und Muttern! Ah, und eine halb fertige Figur aus solchen Kleinteilen! Was soll das denn werden?
    Ein Geigenspieler, dachte Fanni.
    In dem kleinen Laden gleich am Eingang zur Parkklinik, wo neben anderen Geschenkartikeln auch diese Figuren angeboten wurden, hatte Fanni eine ganze Gruppe von Musikern – Geiger, Cellist, Bläser und Klavierspieler –, auf eine Metallplatte gelötet, gesehen.
    Tillman stellte sie also her und hatte anscheinend seiner Mutter eine geschenkt, die dann – trotz aller Zwistigkeiten – einen Platz auf ihrem Schreibtisch erhielt.
    Erneut sah sich Fanni von der Detailgenauigkeit beeindruckt, die Tillmans Schraubenfiguren auszeichnete. Auf der Geige waren sogar Saiten aus winzigen, feinen Drahtstückchen angebracht.
    Der Junge kann scheint’s recht gut umgehen mit Draht! Und offensichtlich hat er einen netten Vorrat davon!
    Kommt Tillman als Täter in Betracht?, fragte sich Fanni. Aber im Moment stand ihr der Sinn nicht danach, sich Gedanken darüber zu machen.
    Sie wandte sich wieder der sonnendurchfluteten Lichtung und ihren Bewohnern zu. Erst jetzt wurde sie gewahr, dass in einiger Entfernung eine ganze Versammlung unterschiedlichster Gestalten den Eindruck erweckte, als wären sie hier zusammengetroffen, um ein gemütliches Schwätzchen zu halten.
    Fanni kam ein Lächeln an, als ihr ein – sehr abstrakt gehaltenes – Häschen ins Auge fiel, das es sich auf dem Rücken eines Elefanten bequem gemacht hatte.
    »Haben Sie sich verlaufen?«
    Fanni empfand einen Anflug von Ärger, weil man sie aus dieser Märchenwelt riss und in die Wirklichkeit zurückzerrte. Das ungute Gefühl legte sich, als sie den sanften Druck von Sprudels Hand spürte. Doch gleich darauf ließ er sie los, woraufhin sie etwas Seltsames in sich aufsteigen fühlte.
    Eine Erinnerung, ein schwacher Nachklang von etwas Vergessenem?
    Nein, keines von beidem. Es handelte sich eher um ein vages Sehnen, ein Ziehen wie leises Heimweh.
    »Wir kommen von der Parkklinik«, hörte sie Sprudel sagen, »wo man uns erzählt hat, dass hier ein Bildhauer lebt.«
    Fanni hatte sich inzwischen ebenfalls zu dem jungen Mann umgedreht, der von hinten an sie herangetreten war, und lächelte ihn freundlich an. »Sein Zuhause erscheint mir beinahe paradiesisch.«
    Tillman Bogner – die Ähnlichkeit mit seiner Mutter verriet ihn – zwinkerte ihr zu. »In gewisser Weise haben Sie recht. Ich empfinde es selbst meist so, aber gegen etwas mehr Komfort im Wohngebäude hätte ich manchmal nichts einzuwenden.«
    Fanni nickte verständnisvoll. Der junge Mann war ihr sympathisch, und obwohl er abgetragene Jeans und einen ausgefransten Pullover trug, wirkte er sehr gepflegt. Er war glatt rasiert, die braunen Haare hatte er ordentlich gekämmt, sodass sie das einnehmende Gesicht in lockeren Wellen umschmeichelten.
    Liegt es an der braven Frisur, überlegte Fanni, dass seine Züge fast so weich wie die eines Mädchens erscheinen?
    »Macht die Gesellschaft, in der Sie hier leben, nicht ein paar Widrigkeiten wett?«, sagte sie. »Ich muss zugeben, Ihre Mitbewohner haben mich in Bann geschlagen.«
    Tillman war inzwischen an den Tapeziertisch getreten und hatte damit begonnen, dem Geigenspieler einen Bogen anzupassen.
    »Und meine Tochter hat sich in diese Schraubenkreationen verliebt«, fügte Fanni hinzu.
    Tillman lachte. »Mein Broterwerb.«
    Von solchen Schraubenmännchen kann man leben?
    Der verblüffte Einwurf ihrer Gedankenstimme schlug sich offenbar in Fannis Gesichtsausdruck nieder, denn das Lachen ließ nun Tillmans ganzen Körper beben, weshalb er den Metallstift, der den Geigenbogen verkörpern sollte, zur Seite legen musste.
    »Die Betonung liegt auf Brot «, sagte er. »Mehr bringt das Geschäft nicht ein. Sie sehen ja selbst, was für

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