Milchfieber
und es dauerte eine Weile, bis Horst zum Melken erschien. Winkler sah übernächtigt aus, molk sehr nervös und redete kaum ein Wort mit Allmers. Stutzig wurde Hans-Georg Allmers, als er feststellte, dass Horst sich heute nicht um die Melkordnung seiner Tiere kümmerte. Als er schließlich begann, schon lange trockenstehende Kühe, deren Euter klein und schlaff herunterhingen, zu säubern und er Anstalten machte, sie zu melken, Allmers deshalb eingreifen musste, war ihm klar, dass zumindest mit Horst etwas nicht stimmte.
Aber Allmers konzentrierte sich auch nicht auf die Arbeit sondern dachte die meiste Zeit an den Nachmittag mit Wiebke am Strand, machte dauernd kleine Flüchtigkeitsfehler, einmal goss er die Milch in das falsche Laborröhrchen, das nächste Mal vertat er sich in der Zeile und ordnete die Milch von „Lisbeth“ der Kuh „Emma“ zu.
Endlich, dachte er, als Horst kurz angebunden sagte: „Morgen um halb sieben.“ Die Luft in dem engen Stall war immer schon stickig, heute schnürte ihm der Ammoniakdunst fast den Hals zu. Erleichtert schwang er sich auf sein Rad und fuhr zu Hella Köhler.
„Die haben Dreck am Stecken“, meinte Hella nur, als Allmers ihr von Horst Winklers eigenartigem Verhalten erzählte. Sie saß am Küchentisch und versuchte mühselig ein Kuchenrezept, das ihr eine Nachbarin gegeben hatte, zu lesen. Ihre Augen waren so schwach geworden, dass sie sich mittlerweile die Zeitungsartikel von ihrem Mann vorlesen lassen musste. Was sonst in der Welt passierte erfuhr sie aus dem Fernsehgerät oder dem ewig laufenden Radio und für die Neuigkeiten aus dem Dorf hatte sie einen ganzen Schwarm von Zuträgerinnen sowie Friedel, dessen Fähigkeit in der Dämmerung unbemerkt durch alle Fenster zu sehen, jede Zeitung ersetzte.
„Soll ich dir helfen?“, fragte Allmers und Hella nickte.
„Lies mir das mal vor“, sagte sie, „wenn ich das Rezept einmal gehört habe, weiß ich, wie es geht.“
Vor ein paar Jahren war Hella Köhlers Ruhm als Konditorin bis zu einer großen Frauenzeitschrift gedrungen und eine Reporterin war losgeschickt worden, einen Bericht über diese „sagenumwobene“ – so drückte sie es aus – Kuchenbäckerin zu verfassen. Hella hatte erst nicht glauben wollen, dass diese magere kleine Person, die sie nur schemenhaft erkennen konnte, ein Gespräch über das Kuchenbacken mit ihr führen sollte. Erst als sie und der begleitende Fotograf eingewilligt hatten, von jedem Kuchen zu probieren, den sie vorbereitet hatte, war Hella Köhler zu ein paar Auskünften über sich bereit. Die beiden konnten es dann kaum fassen, was Hella Köhler aus ihren Schränken zauberte.
Sie begann die Kuchenvorführung mit Altdeutschem Napfkuchen, Prager Nussrolle und Böhmischen Striezeln. Die Reporterin hielt sich zurück und naschte nur wenig von jedem Kuchen. Sie ahnte, dass es ein harter Arbeitstag für sie werden würde. Der Fotograf griff beherzt zu und bereute es später, als er im Auto saß und das Steuer der Journalistin überlassen musste, weil ihm hundeelend war.
Hella Köhler servierte dann einen noch warmen Butterkuchen, dessen Foto in der Zeitschrift über zwei Seiten ging und die ganze Geschichte einleitete. Dann folgten Cremeschnitten, Apfeltaschen, finnische Korvapuusti, ein Quarkstollen und Schwäbischer Käsekuchen ohne Boden.
Die Journalistin erbat sich nach der Hälfte des Nachmittags eine Pause, verschwand auf die Toilette und als sie mit frisch gewaschenem Gesicht wiederkam, hatte sie den Eindruck, als ginge es erst richtig los. Es standen eine Sachertorte, Nussschiffchen und eine mächtige Eistorte, für die Hella extra einen Teil des Inhalts ihrer Tiefkühltruhe ins Dorf zum Kalthaus gebracht hatte, auf dem Tisch.
Dazu waren der Kaffee vorzüglich und die Sahne frisch geschlagen. Hella Köhler musste mehrere Tage durchgearbeitet haben, auch wenn sie ihre Nachbarinnen eingespannt hatte, die den einen oder anderen Kuchen in ihre Backöfen geschoben hatten.
Hella Köhler bestand darauf, dass die Journalistin alle angebrochenen Kuchen mitnahm und die Redaktion damit versorgte. Sie lieferte die Kuchen in der Redaktion ab und verkroch sich in ihrer Wohnung. Es dauerte mehrere Tage, bis sie wieder zum Dienst erscheinen konnte, genauso wie der Fotograf, der seine Bilder in die Redaktion mailte und sich dann drei Tage in sein Bett legte, wo er von seiner Frau mit Tee und Zwieback versorgt werden musste.
Die Reportage ging über mehrere Seiten und Berichte über die
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