Milchgeld: Kluftingers erster Fall
überregionalen Blatt. Er wunderte sich sehr darüber, erklärte es sich aber dann damit dass damals, in den achtziger Jahren, die Menschen für Ernährungsfragen wohl noch nicht so sensibilisiert waren wie heute. Die Firma hatte alles heruntergespielt, wie es intern zugegangen war, las er nicht. Ein paar Mal tauchten die Begriffe Krebs erregend auf, aber erhärten ließ sich der Verdacht offenbar nicht.
Er hielt inne und dachte nach. Er konnte sich nicht erinnern, dass Lebensmittel oder Ernährung in seiner Jugend jemals eine Rolle gespielt hatten. Klar, es gab schon Binsenweisheiten wie »Iss Butter, das ist gesund« oder »Ein Apfel am Tag hilft gegen jede Plag«. Aber das war’s auch schon gewesen. Niemand achtete damals beim Einkauf auf die Bestandteile der Speisen.
Jedenfalls niemand, den er kannte. Das begann erst, nachdem die ersten großen Lebensmittelskandale bekannt geworden waren. Aber in den siebziger Jahren? Ihm fielen auf Anhieb keine Skandale aus dieser Zeit ein.
Er überlegte: War nicht die Sache mit dem gepanschten Wein in dieser Zeit gewesen? Als die Österreicher auf die Idee kamen, Frostschutzmittel in ihre Getränke zu kippen? Glykol hieß das Mittel, daran konnte er sich gut erinnern, schließlich war es monatelang in aller Munde gewesen – im wahrsten Sinne des Wortes. Er hatte damals immer gefrotzelt, dass er den österreichischen Wein statt zu trinken schon immer ins Kühlwasser seines Autos gekippt hatte.
Aber nein, das war später gewesen, Anfang der Achtziger, vermutete er.
War die Welt damals also noch ganz in Ordnung gewesen? Davon konnte wohl auch keine Rede sein. Er erinnerte sich an seinen Schulfreund, wie hieß er doch gleich, richtig: Kreutzer. Er hatte den Bauernhof seines Vaters übernommen und wollte daraus einen wirtschaftlichen Betrieb machen. Kluftinger hatte sich darüber des Öfteren mit Martin unterhalten. Ihr müsst rationalisieren, vergrößern, Masse produzieren, hatte Martin die Lehrer in der Landwirtschaftsschule immer zitiert. Er hatte sich auf Hühner spezialisiert und eine der ersten großen Hühnerfarmen im Allgäu eröffnet. So an die 10000 müssen das gewesen sein. Alle im Käfig, versteht sich. Von Tierschutz, Bio oder Ökologie hatte damals noch keiner geredet. Auch Martin nicht. Na ja, bis 72 oder 73 das Hühnerfleisch in die Schlagzeilen geriet. Weil angeblich zuviel Salmonellen darin waren, wegen der schlechten Haltung. Das haben sich dann einige zu Herzen genommen, aber so richtig durchschlagend war der Erfolg auch nach diesen Fällen nicht gewesen. Nur für Martins Unternehmen brachte es das Aus; soviel Kluftinger wusste, arbeitete er jetzt in einem großen, industriellen Schweinemastbetrieb irgendwo in Norddeutschland. Es war jedenfalls das Letzte, was er von ihm gehört hatte.
Das war für lange Zeit das letzte Mal, dass das Thema Ernährung diskutiert wurde, meinte sich Kluftinger zu erinnern.
Das würde zumindest erklären, dass der Kölner Skandal – denn nach heutigen Maßstäben war es sicherlich ein solcher – in den Medien nicht so hochgespielt wurde. Glück für Wachter und Lutzenberg, dachte sich Kluftinger. Sie waren ihren Job zwar erst einmal los, aber sie wurden nicht öffentlich an den Pranger gestellt. Er vermutete sogar, dass hier die wenigsten etwas davon mitbekommen hatten. Er selbst konnte sich ja auch nicht daran erinnern. Das war wohl auch der Grund, warum die Schönmangers ganz gut mit Wachters Vergangenheit leben konnten: Für die Insider war er bekannt, da standen ihm die ganz großen Türen nicht mehr offen. Aber die Krugzeller hatten so einen guten Fang gemacht, den sie sich sonst nie hätten leisten können. Und es bestand sicher auch nicht die Gefahr, dass in Zeiten, in denen BSE, Schweinemast und Krebs erregende Stoffe in Kartoffelchips für Schlagzeilen sorgten, irgendein Hahn noch nach den längst vergessenen Skandalen von vorgestern krähen würde.
Dennoch war Kluftinger noch nicht zufrieden mit dem, was er bisher herausgefunden hatte. Es erklärte zwar detailliert, warum die Sterne der beiden nicht mehr in der Milchstraße leuchteten. Weshalb sie sich aber entzweit hatten, war ihm noch nicht klar.
Kluftinger blätterte die weiteren Seiten durch. Eine konkrete Antwort auf die Frage fand er nicht. Es klang in den Berichten die folgten, immer nur an, dass die beiden sich wohl über ihre Forschungen in die Haare bekommen hatten. Mehr ging daraus zunächst nicht hervor.
Kluftinger klappte den Umschlag wieder zu.
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