Milchmond (German Edition)
laufen. Was hatte das Telefonat zu bedeuten?, fragte er sich. Zum ersten Mal war er bewusst Zeuge von Sylvias Wandlungsfähigkeit und Abgebrühtheit geworden, und er war darüber erschrocken. Hier ging etwas vor, was der Klärung bedurfte. Steckte sie in Schwierigkeiten? War sie in irgendwelche dunklen Machenschaften verstrickt? Wurde sie gar bedroht? Oder war sie gar nicht Opfer, sondern Täter? Sollte er mit ihr darüber sprechen? Fragen über Fragen.
In diesem Augenblick fasste er einen folgenschweren Entschluss, bei dem er sich keineswegs wohl fühlte, aber es musste sein: Er würde den Dingen auf den Grund gehen und mit Harry sprechen. Harry führte eine gut gehende Detektei, fünf Häuser von seiner eigenen Kanzlei entfernt, und er war Tobias Spürnase, wenn es galt, vertrauliche Informationen über andere Menschen zu erhalten.
Diesmal würde er ihn mit einem besonders delikaten Problem beauftragen. Er sollte herausfinden, ob es ein Geheimnis um Sylvia gab. Wenn ja, dann musste ihr Problem nach ihrer Trennung von ihm aufgetreten sein. In den Jahren davor hätte er mitbekommen, wenn etwas nicht gestimmt hätte.
Harry Zernowsky kam ohne Umschweife zur Sache. Sie saßen in seinem erstaunlich gut eingerichteten und aufgeräumten Büro. Wie immer stand das Fenster weit offen, denn Harry brauchte immer viel Luft und Raum um sich herum. Seine Kunden dankten es ihm, denn Harry war Kettenraucher. Unablässig wanderte eine filterlose Camel nach der anderen durch seine gelben, ansonsten aber sorgfältig manikürten Finger.
Nachdem er sich die Geschichte von Tobias angehört hatte, schoss er seine Fragen wie Pfeile ab: »Geben Sie mir doch bitte die Personalien Ihrer Braut und die Telefonnummern, die sie unterhält.« Er notierte sich alles und wollte dann noch etwas über ihr Arbeitsumfeld und ihre Tagesroutinen wissen und ob Tobias Veränderungen an ihr aufgefallen waren? Er fragte doch tatsächlich auch nach Dingen, wie: Finanzielle Situation, Trink- und Spielsüchte, Tabletten und andere Drogen?
Tobias kamen die Antworten nicht so glatt von der Zunge wie gewöhnlich. Dieser Fall war schon besonders delikat - sie sprachen schließlich über seine künftige Frau. Erst, als ihm die Frage nach möglichen Süchten gestellt wurde, kam ihm in den Sinn, dass es von anderen Menschen keineswegs als normal angesehen wurde, regelmäßig in Spielcasinos zu verkehren. In diesem Licht hatte er die Sache noch nie gesehen, weil es wie selbstverständlich zu Sylvia zu gehören schien und er sie gar nicht anders kannte.
Ihre Aufgedrehtheit, ihre Exaltiertheiten, ihre nimmermüde, nach immer neuen Reizen gierende Aufmerksamkeit. Erst nach diesem Gespräch mit Harry, war es ihm möglich, das zu erkennen. Seltsam!
»Gut, Herr Steinhöfel! Ich habe erst einmal alles, was ich brauche. Wenn ich noch Fragen haben sollte, darf ich Sie auf Ihrem Handy anrufen, sagten Sie - war doch richtig?«
»Ja, klar, ist mir lieber als über den Büroapparat. Ich möchte, dass alles sehr diskret abläuft. Sie verstehen?«
»Diskretion ist Ehrensache. Das gehört zum Berufs-Credo. Sonst könnte ich meinen Laden dichtmachen, Herr Steinhöfel. Ich denke, dass ich in den nächsten Tagen bereits erste Erkenntnisse habe. Sie hören dann umgehend von mir.«
Die beiden Männer reichten sich zum Abschied die Hand. Das Gespräch hatte keine halbe Stunde gedauert. Tobias mochte diese knappe und präzise Art - keine Zeit verschwenden, keine unnötigen Floskeln und Smalltalks, nur Fakten zählten, wie auch in seinem eigenen Beruf. Auf so einer Basis konnte und mochte er arbeiten.
Dieses Gespräch verhalf ihm, eine neue Perspektive gegenüber Sylvia einzunehmen, sie sozusagen aus einem größeren Abstand zu betrachten. Passte diese Frau wirklich zu ihm? Er war sich mittlerweile nicht mehr sicher und gespannt, was Zernowsky herausfinden würde.
Zurück in der Kanzlei begann er, die Scherben des letzten Verhandlungstages vom Freitag zusammenzukehren und eine neue Strategie zu erarbeiten. Es fiel ihm schwer, sich wie gewohnt zu konzentrieren - kreisten doch seine Gedanken unablässig um Sylvia und ihr Geheimnis.
Zwei Tage später, am Mittwoch, rief Harry wieder an und bat ihn, in sein Büro zu kommen. Tobias war verblüfft, hatte er doch nicht so rasch mit ersten Ergebnissen gerechnet, oder brauchte Zernowsky noch weitere Informationen von ihm? Er würde es gleich erfahren, hatte er Harry doch zugesagt, dass
Weitere Kostenlose Bücher