Milchmond (German Edition)
Heben und Senken seiner pumpenden Lunge, fühlte den polternden Herzschlag und zwang sich zu gleichmäßigerem Atmen, um sich zu beruhigen.
Nach einigen Minuten fing er sich und blinzelte zu dem Umschlag auf dem Tisch. Julia hatte geschrieben, oh mein Gott! In diesem Moment geschah etwas Seltsames: Etwas ergoss sich in seine Adern, fühlte sich an, wie feuriger Lavastrom, strahlte von seinem Herzen in seine Brust und fing an, sich wohlig prickelnd über seinen ganzen Körper auszudehnen. Dieses warme Gefühl, dieses aus der Tiefe seines Selbst aufsteigende Gefühl der Freude, der ungestillten Sehnsucht, dieses... dieses... dieses unbeschreibliche Gefühl musste es sein, was man LIEBE nennt!
Wie hatte er das nur verdrängen können? Mein Gott!
Mit einem Mal stimmten die Dinge wieder, kam der Wirbelsturm in seinem Kopf für Sekunden zum Stillstand. Er liebte nur eine Frau auf diese Weise - Julia! Völlig egal, was er in diesem Brief lesen würde, er liebte sie und für dieses Gefühl konnte es keinen Ersatz geben! Diese Erkenntnis traf ihn mit monumentaler Wucht, in diesem einen Augenblick völliger Ruhe - im Auge des Wirbelsturms.
Danach war nichts mehr wie vorher! Endlich fühlte er sich wieder handlungsfähig, erwachte er wie aus einer Starre, wurde er wieder Herr über sein Leben und wusste, wer er war: Tobias Steinhöfel, erfolgreicher Strafverteidiger!
Nicht mehr sich von anderen, wie eine Figur auf einem Schachbrett, umher schieben lassen. Nie wieder!
Er riss das Kuvert auf und begann, die Zeilen mit der schönen Schrift in sich aufzusaugen
Liebster
Es ist Sonntagnachmittag, und ich sitze allein in einem schönen Café am Strand. Nachdem ich gerade einen ausgedehnten Spaziergang hinter mir habe und mich jetzt mit heißem Tee wieder aufwärme, will ich dir diese Zeilen schreiben, weil ich will, dass du weißt, wie sehr ich dich vermisse. Jörg und ich sind nun noch einmal für eine Woche hierher nach Föhr gefahren, nachdem wir ja bereits Anfang des Monats zwei Wochen hier verbracht hatten. Ich schrieb den letzten Brief vor drei Wochen auch von hier. Seitdem ist viel geschehen. Leider habe ich auch von dir nichts mehr gehört, Liebster - aber ich hatte dich ja auch gebeten, mir Zeit zu geben, ich weiß…(seufz). Und doch gab es seither keinen Tag, ja keine Stunde, in der ich nicht an dich - an uns gedacht habe. Die Mission, die ich an der Seite von Jörg zu Ende zu bringen versuche, ringt mir schier alle Kräfte ab. Oft liege ich nachts verzweifelt wach und weiß nicht mehr, ob das, was ich hier tue, richtig oder falsch ist. Verzeih mir, dass ich so weinerlich bin, aber ich kann (außer mit meinem Bruder) mit keinem Menschen darüber reden, und mein Gefühl sagt mir, nein, besser gesagt, es befiehlt mir, dir meine Situation näher zu beschreiben, damit du vielleicht Verständnis für mich aufbringen kannst. Ich weiß, dass ich dir augenblicklich viel zumute. Ich habe es mir aber auch nicht ausgesucht. Es tut mir um Jörg so leid. Dass diese schlimme Krankheit ausgerechnet über ihn kommen musste, nachdem wir beide, du und ich, uns entschlossen hatten, uns gemeinsam eine neue Zukunft aufzubauen. Mir kommt es manchmal wie eine Strafe Gottes vor, was hier passiert. Aber ich finde, Jörg hat das nicht verdient; er hat doch mit dem Ganzen nichts zu tun! Vielleicht hätte diese Krankheit besser und gerechterweise mich treffen sollen. Natürlich ist mein Verhältnis zu Jörg, seitdem wir beide uns kennen gelernt haben, nicht mehr dasselbe wie früher, kann es auch einfach nicht mehr sein. Ich fühle mich ihm gegenüber jetzt fast wie eine Schwester oder gute Freundin. Jörg redet nicht über seine Krankheit oder seine Ängste. Er scheint es völlig zu verdrängen, dass ich ihn verlassen will. Diese Sprachlosigkeit macht es mir so schwer. Ich hatte gehofft, ihm durch Gespräche und menschliche Nähe helfen zu können, aber manchmal denke ich, er braucht mich nur noch zu Transport- und Versorgungszwecken. Es ist so schrecklich, Tobias, du kannst es dir nicht vorstellen. Ich glaubte anfangs, es sei meine verdammte Pflicht, so zu handeln wie ich es tat, seltsamerweise fühlt sich aber alles so falsch an. Aber ich kann ihn doch nicht sich selbst überlassen, oder? Er müsste dann in ein Pflegeheim. Ich weiß nicht, ob ich den Gedanken ertragen könnte. Heute wurde mir beim Spaziergang sehr klar, dass es so, wie bisher, jedenfalls nicht weitergehen kann! Ich habe mir vorgenommen, heute Abend mit
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