Milchmond (German Edition)
erste Telefongespräch, in der sie die angebliche Ärztin um einen Gesprächstermin gebeten hatte. Auch, dass sie die Nummer aus Jörgs Handy hatte, passte perfekt zusammen.
Tobias hatte Julias aufkommende Beunruhigung über seine Fragen nur mit dem Hinweis im Zaum halten können, dass er ihr am kommenden Samstag mehr dazu sagen könne. Er war außer sich vor Wut und Abscheu. Wie hatte er sich nur jahrelang so in Sylvia täuschen können? Es war, als sei er blind gewesen. Er konnte das alles Julia gegenüber unmöglich am Telefon aufklären. Sie würde völlig zusammenbrechen, wenn sie die Wahrheit erfuhr, dessen war er sich sicher. Überhaupt tat es ihm leid, ihr diese Enttäuschung bereiten zu müssen. Er überlegte fieberhaft, ob es noch eine andere Möglichkeit gab, um sie vor dieser schmerzhaften Verletzung zu bewahren.
Heute Abend würde er mit Sylvia Klartext reden, darauf konnte sie sich verlassen, dieses Biest! Bei dem Gedanken an sie, schauderte ihm. Den dämlichen Ring trug er schon seit Montag früh nicht mehr. Ella hätte ihn sofort bemerkt. Seltsam, seitdem Sylvia wieder in seinem Leben aufgetaucht war, hatte er schon die ganze Zeit über so ein Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimmte, jetzt wurde aus diesem Gefühl traurige Gewissheit. Das für ihn Positive an der ganzen Sache war: Er würde Julia bald zurückbekommen. Bei dem Gedanken hellten sich seine Züge auf und die Sehnsucht nach ihrer körperlichen Nähe loderte jäh auf, wie eine Kohlenglut im Windzug.
Das Unheil traf ihn in der Mittagspause. Er schmierte sich gerade in der kleinen Küche der Kanzlei ein Brötchen und ging mit einem Kaffee bewaffnet, zurück in sein Büro, als das Handy auf dem Schreibtisch eine eingehende SMS signalisierte. Er las nur einen Satz auf dem Display:
ICH WILL DICH NIE
WIEDER SEHEN, DU
GEMEINER MISTKERL!!
Absender: Julia
Ja, war denn die ganze Welt verrückt geworden? Schlagartig wusste er, was passiert war. War es Telepathie oder vielleicht nur die banale Erfüllung seiner geheimsten Befürchtungen? Sylvia musste Julia von der Verlobung berichtet haben - es konnte gar nicht anders sein! Die ganze Zeit über hatte er den Gedanken an diesen Umstand verdrängt, hoffend, dass Julia es nie erfahren würde, aber da hatte er wohl die Rechnung ohne Sylvia gemacht.
Es blieb keine Zeit zum weiteren Analysieren. Er musste sofort zu Julia, mit ihr persönlich sprechen und sie über die gemeine Intrige aufklären, deren Opfer sie beide waren.
Entschlossen sprang er auf und riss die Bürotür auf. »Ella, finden Sie bitte sofort heraus, wann die nächsten Fähren nach Föhr ablegen!« Verdattert schaute Ella ihn an, sah seinen verstörten Gesichtsausdruck und wusste augenblicklich, dass Alarmstufe rot angesagt war. »Sofort, Herr Steinhöfel!«
Er stürmte weiter zu Nob, um ihm seine geplante Flucht auf die Insel zu erklären. Den morgigen Termin bei Gericht würde Nob für ihn wahrnehmen müssen, das war aber keine große Sache. Nob stellte keine Fragen, augenscheinlich konnte auch er in seinem Gesicht den Ausnahmezustand ablesen. In diesem Augenblick fühlte Tobias große Dankbarkeit für die Diskretion seines Partners. »Danke Nob! Es ist wirklich unaufschiebbar, weißt du?«
»Klär deine Angelegenheiten, damit du wieder zum normalen Menschen wirst! Viel Glück, und melde dich, falls du Montag nicht zurück bist!« Dankbar nickte Tobias ihm zu und ergriff beim Hinauseilen von Ella den Zettel mit den Fährverbindungen. »Sie sind ein Schatz, Ella! Danke. Nob übernimmt meinen morgigen Termin. Tschüß!« Mit dem Mantel über dem Arm hetzte er zu seinem Wagen und jagte mit röhrendem Motor und quietschenden Reifen aus der Tiefgarage. Er wollte die Dagebüll-Fähre um sechzehn Uhr erreichen.
Während der eiligen Fahrt hatte er genug Zeit zum Nachdenken. Was hatten diese beiden Verrückten da nur ausgeheckt? Was hatten sie Julia angetan? Was hatte er ihr angetan? Diese blödsinnige Verlobung! Wie hatte er sich nur so überrumpeln lassen können? Immer und immer wieder fragte er sich, warum er dem Treiben im Landhaus Scherrer keinen energischen Einhalt geboten hatte und wusste doch, dass er sich mit keinem Argument reinwaschen und herausreden konnte. Er hatte auf ganzer Linie versagt, und es geschah ihm wohl recht, was gerade passierte! Aber jetzt ging es um Julia. Er war es ihr schuldig, sie schonend aufzuklären, ihr die Augen über ihren Mann zu öffnen, sie abzufedern,
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