Milchmond (German Edition)
als sie ein Stück Papier wahrnahm, das darin steckte. Sie zog es heraus, nun neugierig geworden und entfaltete den Zettel.
Fasziniert las sie:
Hallo Du!
Ich bin nicht zufällig hier, sondern weil mich mein Freund, der Tobias, geschickt hat. Dem ist gaaanz etwas Furchtbares passiert. Hör zu: Er wurde doch tatsächlich von dem bösen Krokodil gebissen. Du kennst es - du hast uns ja vor einer Woche schon kämpfen sehen. Ich hatte damals Glück, weil die Kinder mich warnten, aber mein Freund, den Tobias, den hatte niemand gewarnt. Der Biss tut ihm ganz fürchterlich weh, und er hat zu mir gesagt, ihm könne nur Eine helfen, nämlich du! Das hat er gesagt! Er hat mir erklärt, dass du eine Hexe seiest, die sich jedoch verwandelt habe und nun von ganz betörendem Äußeren sei! Und er hat Recht, das muss ich wirklich sagen! In Wirklichkeit bist du aber eine böse Hexe, die das Krokodil verhext hat, ihn zu beißen. Nur du kannst den Zauber wieder lösen und die Folgen des Bisses heilen. Hilfst du ihm, die Schmerzen zu überwinden? Bitte! Nur du kannst es! Hier ist seine Nummer: (es folgte eine Handynummer). Bitte ruf ihn unbedingt an und heile ihn von dem Zauber, der ihn seitdem gefangen hält und leiden lässt...! Und, wenn du jetzt gleich keine Zeit haben solltest, dann soll ich dich, wann immer dein Blick auf mich fällt, an ihn und seine Schmerzen erinnern!
So, jetzt weißt du Bescheid! Mach was, bitte!
Kasper
Sie ließ den Zettel sinken. Was war das denn??
Der Zettel erinnerte sie an ihre Schulzeit, als manchmal von den Jungen kleine Schnipsel mit Liebesschwüren die Runde machten. War der verrückt geworden? Sie erinnerte sich genau an die beiden Momente, in denen sie diesem Tobias begegnet war. Sie hatte dem jedoch keinerlei Bedeutung beigemessen. Allerdings hatte sie es erstaunlich gefunden, dass ein Mann vor einem Kasperletheater stehen blieb.
Weil das für Männer an sich ungewöhnlich ist, hatte sie angenommen, er sei ein Vater, dessen Kind sich das Spiel anschaute. Er hatte aber geantwortet, dass er nur so dastünde - genau wie sie.
Nun begegnete sie ihm heute ein zweites Mal. Zufall? Nein, ganz sicher nicht. Er musste sie abgepasst haben. Augenblicklich meldete sich ihr analytischer Juristen-Verstand zu Wort. Ja, er musste es geplant haben, denn alles ging heute sehr schnell. Ihre Blicke hatten sich nur für einen kurzen Moment gekreuzt, dann war die Begegnung vorbei. Also musste er ihr die Puppe vorher in die Tasche geschmuggelt haben, und der Zettel musste demnach bereits vorbereitet gewesen sein. Was war das für eine merkwürdige Geschichte? Hatte er sich in sie verliebt? Der Text tendierte in diese Richtung. Aber so attraktiv, wie der aussah, war er bestimmt verheiratet. Männer in dem Alter liefen nicht einfach so herum, frei und ungebunden. Wollte er eine Affäre mit ihr anfangen? Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr diese Schlussfolgerung. Verrückt! Immerhin, sie fühlte sich geschmeichelt, denn hatte sie bisher nicht schon angenommen, ihr persönliches Verfallsdatum sei seit ihrem schmerzhaften dreißigsten Geburtstag längst überschritten? Und über Fantasie schien dieser Tobias immerhin zu verfügen.
Sie las die Nachricht noch einmal. Wieder meldete sich ihr Juristenverstand: Er hatte zumindest ein fehlerfreies und gutes Deutsch geschrieben - in der heutigen Zeit alles andere als selbstverständlich! Trotzdem - das mit der Handynummer war plump, was dachte dieser Typ denn von ihr? Entschlossen zerknüllte sie das Papier, um es später in den Mülleimer zu befördern. Den Kasper hinterher zu werfen, kam für sie allerdings nicht in Betracht. Er war zu niedlich. Sie setzte ihn auf das Bücherregal, wo er wieder umfiel.
Nachdem sie ihn zurechtgestaucht hatte, blieb er sitzen - sein Glück!
Jörg kam die Treppe herunter. »Schon wieder vom Markt zurückt? Ich habe für unser nächstes Konzert noch ein wenig komponiert. Du weißt ja, dass ich das Chattanooga Choo Choo für unsere Band noch umgearbeitet habe, damit Pauline, die Neue aus der Neunten, damit zurechtkommt. Sie müsste eigentlich schon hier sein.« Er sah auf seine Uhr. »Ich hatte sie angerufen, denn die einzige Gelegenheit, es noch einmal mit ihr durchzugehen, ist heute, da sie morgen mit ihren Eltern in den Urlaub fährt. So kann sie noch während der Ferien ein wenig daran üben. Bei Schulbeginn haben wir nur noch zehn Tage Zeit bis zum Konzert
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