Milchmond (German Edition)
fasste sie an beiden Schultern und sah ihr ernst ins Gesicht. »Kind, wenn ich dich so reden höre, dann höre ich aus deinen Worten Kummer heraus, großen Kummer! Ich bin Richter, da muss man sich zwar an Fakten halten, aber man bekommt auch ein Gefühl dafür, was Menschen nonverbal ausdrücken. Ich habe das Gefühl, dass eure Ehe gerade in einer kleinen Krise steckt und du jetzt die Flucht nach vorn antreten möchtest, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Julia, lass dir einen Rat von mir geben: Ich will dir ja deine Selbständigkeit gar nicht ausreden. Mach dir darüber ausführlich Gedanken! Wenn du weißt, was du wirklich willst, dann machst du ein Konzept, das hieb- und stichfest ist. Wenn es dann so weit sein sollte, wirst du Geld von einer Bank brauchen. Ohne schriftliches Konzept und Business-Plan geht da gar nichts. Werde dir außerdem darüber klar, ob du den Wunsch, Mutter zu werden, wirklich ein für alle Mal an den Nagel hängen möchtest. Ich habe manche Frau gesehen, die vorschnell aufgab und dann ihr ganzes späteres Leben darunter gelitten hat. Sprich dich mit Jörg aus. Sich aus dem Weg zu gehen und schwierige Themen zu vermeiden, ist ganz gewiss nicht der richtige Weg. Im Beruf bist du auf Auseinandersetzungen spezialisiert - wende dein Wissen und Können doch einmal auf eure Ehe an. Es wird sich lohnen, ganz bestimmt! Versprich mir, nichts Unüberlegtes zu tun. Wenn du ganz sicher zu wissen glaubst, was du willst, reden wir noch einmal darüber, ja? Lass uns das Thema für ein halbes Jahr aufschieben. Ich mache mir derweil ein wenig Gedanken und ihr euch auch, in Ordnung?«
Julia nickte, sie war enttäuscht. Ihr Vater hatte sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Und er hatte natürlich Recht. So gingen sie noch eine Weile aneinandergeschmiegt an der Elbe entlang und jeder hing seinen Gedanken nach.
Als sie zurückkamen, war Jörg bereits eingetroffen. Ihre Mutter saß mit ihm am Tisch und sie unterhielten sich - natürlich über Musik. Wie konnte es auch anders sein? Sie sprachen den Abend nicht mehr über Julias Zukunftspläne.
Auf dem Weg nach Hause dachte sie an die Worte ihres Vaters. Ihre anfängliche Enttäuschung war einer distanzierten Ruhe gewichen, und das war gut so. Sie hätte sich natürlich besser auf das Gespräch mit ihrem Vater vorbereiten sollen. Im Nachhinein ärgerte sie sich darüber, dass sie wie ein Kind daher geplappert hatte. Sie musste einräumen, dass die Argumente ihres Vaters stichhaltig waren.
Vordringlich musste sie sich der Frage stellen: Mutterschaft, ja oder nein? Hatte sie bis heute Mittag noch gedacht, nun würde sie sich eben verstärkt ihrer Karriere widmen und das andere Thema nicht mehr so existenziell wichtig zu nehmen, so blieben nun die eindringlichen Worte ihres Vaters nicht wirkungslos. Die Frage war wirklich zu ernst, als dass man sie oberflächlich aus dem Affekt heraus abhandeln konnte. Gab es eine Lösung für ihre Frage des Eltern-Werden-Wollens, oder nicht? War sie zu kleinlich, was ihren Anspruch anging, dass ihre Kinder einen Vater haben sollten, der sie sich wirklich von Herzen wünschte? Wuchsen nicht die meisten Kinder mit oder ohne Vätern auf, die sie nie wirklich bewusst und gewollt gezeugt hatten? Waren diese Kinder deswegen weniger glücklich? Fragen über Fragen. Sie nahm sich vor, darüber eine wirkliche und ernste Entscheidung zu treffen. Schließlich war sie es, die es in der Hand hatte.
Am nächsten Morgen schliefen sie lange. Sie erwachte erst, als Jörgs tastende Hand auf ihrem Bauch lag. Sie war überrascht, das hatte er lange nicht mehr getan. Sie machte sich frei und gab vor, ins Bad zu müssen.
Obwohl Jörg murrte, kam sie nicht wieder zurück ins Bett. Sie hatte jetzt keine Lust auf Zärtlichkeiten - nicht, bevor es ein klärendes Gespräch zwischen ihnen gegeben hatte.
Ihr war unbehaglich zumute. Durfte sie sich so verhalten? Ja, sie durfte!, entschied sie. Sollte ihr lieber Mann doch mal aus seiner egozentrischen Haltung herauskommen und zur Abwechslung mal nicht an sich, sondern an sie denken. Männer sollten eine Frau umgarnen können. Es konnte Jörg nicht schaden, wenn er sich darauf einmal wieder besinnen würde.
Andere Männer taten das ja auch. Andere Männer...
Sie dachte an den Kasper und an den Fremden, der jetzt einen Namen hatte: Tobias. Sie spürte, dass dieser Tag nicht ihr Tag werden würde. Sicherlich würde Jörg rummaulen, weil er nicht zum
Weitere Kostenlose Bücher