Milchmond (German Edition)
nach, ob das noch etwas mit Zufall zu tun haben konnte. Er hatte nicht wissen können, dass sie hierher fahren würde. Sie wusste nicht, dass er ein Boot auf der Ostsee besaß. Er hatte auch nicht ahnen können, dass sie ihn noch einmal anrufen würde. Also tatsächlich: Zufall!
Wartend setzte sie sich auf ihre Decke und hielt Ausschau. Während sie zu den weißen Dreiecken auf dem Wasser sah, fragte sie sich, welches der vielen Segel dort wohl zu seinem Boot gehörte?
Sie fühlte sich aufgeregt wie ein Teenager vor dem ersten Date. Tja, genau genommen, so war es ja auch, nur dass sie kein Teenager mehr war, sondern eine verheiratete, erwachsene Frau. Sie drängte den störenden Gedanken beiseite - schließlich konnte nichts passieren, was sie nicht wollte. Sie hatte die Fäden in der Hand und konnte sich sofort zurückziehen, falls es unangenehm werden würde.
Es dauerte eine Weile, dann machte sie ein Boot aus, das Kurs auf den Strand hielt. Es wurde größer, sie stand auf, und als sie die Nummer auf dem Segel entziffern konnte, wusste sie, dass er es war. Sie winkte. Er reagierte sofort, denn das Boot nahm Kurs auf sie. Dann sah sie, wie das große Segel eingeholt wurde. Er hielt auf eine der Bojen zu, die die Schwimmergrenze bildeten und vertäute das Boot an ihr. Das Vorsegel flatterte kurz unentschlossen im Wind, dann fiel es ebenfalls.
Ihr Handy klingelte und einen erschrockenen Moment lang dachte sie, es könnte Jörg sein. Die Nummer im Display stimmte jedoch nicht, dann erkannte sie, dass es Tobias Nummer war. Woher wusste er...? Sie nahm ab und hielt sich mit einer Hand das andere Ohr zu, um besser hören zu können.
»Hallo?«
»Tobias hier, ich sehe Sie.«
»Ja, ich Sie auch!«
»Haben Sie Lust, an Bord zu kommen und einen kleinen Törn Richtung Neustadt und zurück zu machen?«
»Ich steige doch nicht zu fremden Männern ins Boot!«
»Ich eigentlich auch nie!«
Sie mussten beide lachen.
»Ich bin kein Monster. Sie brauchen keine Angst zu haben, ich setze Sie in zwei Stunden hier wieder ab. Kommen Sie doch bitte zur Seebrücke dort, ich lege dann kurz an und Sie können trockenen Fußes zusteigen. Wie wär's, machen Sie mir die Freude?«
Sie zögerte. »Kommen Sie, nun seien Sie kein Frosch und zeigen Sie mir, dass Sie wirklich eine ganz böse Hexe sind!«
»Okay, Puppenspieler, ich komme rüber zur Brücke. Auf Ihre Verantwortung!«
»Super, bis gleich also!«
Sie räumte ihre Sachen in die Strandtasche und marschierte los zur nahe gelegenen Seebrücke. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Tobias per Motorkraft parallel neben ihr her fuhr. Ihr kritischer Verstand setzte ein und versuchte, ihr ins Gewissen zu reden. Sie hörte nicht hin, nicht jetzt. Heute war ihr Tag, heute tat sie, was sie wollte!
Als sie die rauen Planken der Brücke unter ihren nackten Fußsohlen spürte, sah sie, dass das Boot bereits an der Brücke festmachte. Sie stieg die wenigen Stufen auf den schmalen Anlegesteg hinunter. Tobias hielt ihr die Hand entgegen, um sie an Bord zu holen. Sie ergriff sie jedoch nicht, sondern blieb stehen und schaute ihm ins Gesicht. Er hatte seine Sonnenbrille lässig nach oben geschoben und nun sah sie zum ersten Mal, ganz bewusst, in seine klaren, eisgrauen Augen, die von Lachfältchen wirkungsvoll eingerahmt wurden. Er sah sie mit einem offenen und sympathischen Lächeln an. »Hallo Julia, kommen Sie an Bord! Ich zeige Ihnen, wie schön die Lübecker Bucht vom Wasser aus anzusehen ist. Geben Sie mir zuerst Ihre Tasche!«
Sie reichte sie ihm, dann ergriff er ihre Hand und sie kam an Bord. Sie war noch nie auf einem Segelboot. Er bemerkte ihre Unsicherheit und bugsierte sie ins Cockpit, wo sie sich an der Kajütwand niederließ. Anschließend hantierte er mit der Vorleine und dem Vorsegel, dann löste sich das Boot langsam vom Steg. Nachdem er auch das Großsegel wieder gesetzt hatte, kam er zu ihr und setzte sich ihr gegenüber an die Pinne.
Bisher hatte sie noch kein Wort zu ihm gesagt. Während er zunächst noch mit dem Manövrieren beschäftigt war, hatte sie einen Augenblick Zeit, ihn in Ruhe zu mustern. Er sah besser aus als sie ihn in Erinnerung hatte. Er wirkte kräftig, aber nicht dick, der Begriff stattlich passte eher. Sein Gesicht war gut geschnitten. Seine Augen und die gerade, fast zierliche Nase, verliehen seinem Gesicht einen Ausdruck von hellwacher Intelligenz, seine vollen Lippen
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