Milchmond (German Edition)
hatte. Ein Kollege von ihr also! Ja, das passte, jetzt fingen die Mosaikteilchen an, sich zusammenzufügen: Sein smartes, scharfsinniges Gesicht, sein Umgehen mit dieser Situation, in der sie die große Schweigende gab.
»... mein Seniorpartner ist gerade in Urlaub, und ich halte sozusagen Stallwache. Und nun Julia, seien Sie so lieb, und geben Sie Ihre schweigende Zurückhaltung auf, schenken Sie mir jedenfalls ein, zwei Worte, bitte!«
Nun beugte er sich zu ihr, sein Gesicht war vielleicht noch einen knappen Meter von ihrem entfernt. Sie löste sich aus ihrer umschlungenen Haltung und streckte sich ein wenig.
»Okay, Sie haben es sich verdient, Puppenspieler!«, gab sie cool ihr Schweigen auf. »Ich habe Sie jetzt eine ganze Weile beobachtet und Ihnen zugehört. Sie sind sehr selbstsicher und charmant im Auftreten. Ja, Sie machen wirklich den Eindruck, ein Routinier zu sein. Sind Sie ein professioneller Frauenverführer oder schlimmer noch, ein Heiratsschwindler?«
Er lachte erleichtert auf. »Na also! Sie können sprechen - und wie! Nein, ich versichere Ihnen, ich bin weder ein Frauenverführer noch ein Heiratsschwindler, eher ein einsamer, alternder Junggeselle, dem die Zeit so langsam davonläuft.«
»Na, in Ihrem Alter läuft ihnen die Zeit noch nicht davon, da bin ich sicher.«
»Ach ja? Also, ich möchte schon noch eine Familie gründen, und finden Sie nicht auch, dass man als Vater mit vierzig, schon fast zu alt für Kinder ist?«
Sie schluckte; diese Offenbarung verschlug ihr nun tatsächlich die Sprache. Hier saß ihr ein männliches, gut aussehendes Wesen gegenüber, das ihr während der ersten halben Stunde ihrer Begegnung klipp und klar sagte, dass er eine Familie gründen wolle und er glaube, dass ihm die Zeit davonliefe? Das war ja wie im Film.
»Na hören Sie, Männer wie Sie müssten sich eigentlich vor Frauen, die ebenfalls heiraten und Kinder wollen, nicht retten können. Was ist mit Ihnen nicht in Ordnung? Haben Sie eine Macke?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt, liebe Julia, mehr als einmal sogar! Vielleicht habe ich die Macke, dass ich den Anspruch habe, eine Frau zu finden, die ich liebe, wirklich und wahrhaftig liebe!«
»Woran machen Sie das fest?«
»Ich höre auf meine kleine, zarte, innere Stimme. Sozusagen auf meinen Kleinen Mann im Ohr. Das hat bisher in fast allen Lebenslagen gut geklappt und geholfen, den richtigen Riecher zu haben. Nur beim wichtigsten Thema, hat diese Stimme bis vor einer Woche geschwiegen.«
Oha, der ging wirklich ran wie Blücher! Er wirkte überhaupt nicht aufgesetzt und schien das, was er mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt hier zu ihr sagte, auch tatsächlich so zu meinen.
»Und was hat Ihnen dieser Kleine Mann im Ohr vor einer Woche zugeflüstert?«
»Er hat gesagt, dass ich am Ziel bin, dass ich die Frau meines Lebens gefunden habe!«
Er legte ihre Hände in seine. Sie erschauerte bei der Berührung. Seine Augen sahen sie mit unglaublicher Wärme und Offenheit an. »Sie heißt Julia, mehr weiß ich leider noch nicht von ihr, das ist aber auch nicht wichtig, denn sie sitzt mir gegenüber.«
Sie hatte plötzlich einen dicken Kloß im Hals. Er war verrückt! Mit einer solchen Direktheit hatte sich ihr ein Mann noch niemals offenbart. Fehlte noch, dass er ihr gleich einen Antrag machte...
Ihre Hände begannen unter der Berührung seiner Hände zu glühen, und eine ungewöhnliche Hitze breitete sich in ihren Unterarmen aus, wanderte in ihre Schultern, brandete in ihren Hals, überschwemmte ihre Brust, traf sie ins Herz…
Sie hatte einmal eine Reiki-Behandlung erlebt, jetzt war ihr, als badete sie in reiner Reiki-Energie. Ihr Hals war plötzlich gänzlich zugeschnürt, und sie spürte eine Rührung, als sei ihr Innerstes angefasst. Ihr wurde schwindlig - sie schien schon seit einer Ewigkeit nicht mehr zu atmen und ließ nun die angestaute Luft aus ihren Lungen entweichen, atmete schwer wieder ein und versuchte zu sprechen. Es kam aber nur ein Krächzen. Sie schluckte und sah durch einen Tränenschleier in seine von Lachfältchen umkränzten, eisgrauen Augen, die aussahen wie zwei kleine, irrlichternde Sonnen, die nun, größer werdend, auf sie zu tanzten. Sie spürte seine Lippen, die die ihren streiften und noch einmal und noch einmal und war immer noch wie gelähmt…
Nach Ewigkeiten wurde ihr bewusst, dass sie ihr Gesicht an
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