Milchmond (German Edition)
Vorwärts-Fahrstufe ein. Das Fahrzeug setzte sich langsam in Bewegung, unvermittelt brachte er es mit einem quietschenden Ruck jedoch gleich wieder zum Stehen. Tobias hatte erschrocken instinktiv auf die Bremse getreten, als er den dunkelroten Schriftzug auf seiner Frontscheibe bemerkte.
Unwillkürlich hatte er in einem ersten Reflex in der roten Schrift eine Bedrohung gesehen. Schließlich war er in seinem Job schon mehr als einmal bedroht worden. Nun erst nahm er das Herzsymbol mit den drei berühmten Wörtern wahr: Ich liebe Dich! Darunter stand kleiner und etwas verschmiert, wie mit dem Handballen verwischt: Achte auf SMS!
Sein Puls schoss durch den Schreck jäh in die Höhe. Er ließ die angestaute Luft langsam aus seinen Lungen entweichen. Im Rückspiegel sah er die Scheinwerfer von Nobs schwerem Jeep näher kommen. In Sekundenbruchteilen entschloss sich Tobias, normal weiterzufahren, sonst würde Nob garantiert aussteigen und nachfragen, was los ist.
Er wollte seinem Partner die Genugtuung, diese Liebesbotschaft zu lesen, einfach nicht gönnen. Als er auf der Garagenrampe empor fuhr, musste er noch eine junge Mutter mit einem Kinderwagen passieren lassen. Diese schaute irritiert auf die Schrift und machte erst dann schmunzelnd den Weg frei.
Zum Glück kannte er die Frau nicht, die Situation war ihm außerordentlich peinlich und er musste zusehen, dass er dieses Geschreibsel von der Scheibe entfernt bekam. So steuerte er die nächstgelegene Tankstelle an und hielt neben dem Staubsaugerautomaten, an dem auch der Eimer mit dem Scheibenwaschwasser stand.
Die Sache ließ sich jedoch nicht so einfach entfernen. Mit Wasser kam er dem Schriftzug nicht bei, dann erinnerte er sich daran, dass er im Handschuhfach noch Entfettungstücher von den letzten Autowäschen aufbewahrte. Das schien besser zu funktionieren, zwar war nun der verräterische Schriftzug weg, aber die Scheibe war völlig verschmiert. Deshalb löste er eine Waschmarke und gönnte dem Wagen eine Intensiv-Wische. Nach einer weiteren Viertelstunde stand der Wagen wieder makellos da. Was hatte sich Julia bloß dabei gedacht? Nicht auszudenken, wenn Nob oder einer der Leute aus dem Gebäude, die ihn und seinen Wagen kannten, diese pubertäre Anmache gesehen hätten. Er schwankte zwischen Verärgerung und amüsiertem Wohlwollen, gab dann schließlich Letzterem den Vorzug.
Eigentlich sah es Julia gar nicht ähnlich, sich solcher Jungmädchengags zu bedienen. Andererseits hatte sie ihn heute Mittag nicht erreicht und ihm ausrichten lassen, dass sie sich melden würde. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass er sie auf ihrem Handy anrief, um ihren kranken Mann zu schonen und um nicht in seiner Anwesenheit Anrufe ihres Seitensprungs entgegennehmen zu müssen.
Bevor er die Tankstelle verließ, sah er im Display seines Handys nach, ob die angekündigte SMS von ihr bereits eingetroffen war. Negativ! Na gut, sie wird sich schon melden, dachte er und steckte das Gerät wieder in seine Tasche.
Als er gerade seine Wohnung betrat und zufrieden den frischen Zitronenduft registrierte, der zuverlässig anzeigte, dass Jeanette wieder für Ordnung und Sauberkeit gesorgt hatte, schlug endlich der erwartete Signalton des Handys an, der die Ankunft der SMS signalisierte. Er entschloss sich, sich vor dem Lesen erst einen doppelten Espresso zuzubereiten. Nachdem die Maschine verstummt und das dampfende schwarze Gebräu in seiner Tasse zur Ruhe gekommen war, nahm er Handy und Tasse, ließ sich in den Sessel fallen und streifte sich die Schuhe ab. Wohlig nahm er den ersten Schluck, dann klickte er auf die neue Nachricht und las:
Absender: privat!
Geliebter! Um 19.00 im Hotel Panino, Zi.109! Die Tür ist angelehnt, meine Augen sind verbunden, ich liege nackt auf dem Bett und erwarte dich sehnsüchtig!
Er konnte nicht glauben, was er da las. Sein Herz tat vor Aufregung einen Sprung - die Überraschung war ihr gelungen. Donnerwetter, soviel Fantasie hätte er ihr gar nicht zugetraut! Er sah auf die Uhr und überschlug rasch, dass ihm noch etwas mehr als eine Stunde Zeit blieb, bevor ein amouröses Wochenende seinen Verlauf nehmen konnte.
Das Panino war ihm kein Begriff, deshalb blätterte er in den Gelben Seiten und wurde schnell fündig: Das kleine Hotel lag in der Nähe des Fernsehturms in Altona. Er las die ungewöhnliche SMS mehrere Male und seine Fantasie begann bereits, Kapriolen zu schlagen, indem sie ihm aufregende
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