Milchmond (German Edition)
überraschende Wendung, weil ihn sein Mandant nicht über alle den Fall betreffende Dinge informiert hatte. Deshalb war er heute als Strafverteidiger ins offene Messer gelaufen. Seine Stinkwut gegenüber seinem Mandanten, wegen dessen Unehrlichkeit, klang erst gegen Nachmittag allmählich ab, nachdem er ihm gehörig den Kopf gewaschen hatte. Zuvor erwog er ernsthaft, den Fall niederzulegen. In solchen Situationen kam ihm jedoch seine verbissene und störrische Beharrlichkeit in die Quere, die ihm ein Aufgeben zuverlässig unmöglich machte. Bis zum Feierabend dachte er über die notwendig gewordene Änderung seiner Verteidigungsstrategie nach, dann kam ihm die möglicherweise rettende Idee - die musste nur noch entsprechend weiterentwickelt werden und durch hoffentlich noch aufzutreibende neue Beweise untermauert werden.
Den Kopf voller Gedanken, leerte er seinen Briefkasten und erst oben in seiner Wohnung, wo er die Werbung von der übrigen Post trennte und in den Mülleimer warf, fiel ihm die mit Tinte geschriebene Adresse auf und weckte sein Interesse. Er kannte Julias Schrift nicht und war von den gleichmäßigen Auf- und Abschwüngen der Buchstaben fasziniert. Als er den Absender auf der Rückseite des Kuverts besah, stutzte er: J. Rosshaupt, postlagernd Wyk auf Föhr.
Was hatte das zu bedeuten? Machte sie nun offiziell mit ihm Schluss?
Stirnrunzelnd riss er das Kuvert auf und entnahm ihm einen Bogen gelblichen Büttenpapiers, das von der schönen Handschrift wie verziert aussah. Seufzend nahm er sich ein Glas und die angebrochene Flasche eines französischen Rotweins mit ins Wohnzimmer, schenkte sich ein und las:
Liebster Tobias!
Sicher hast du schon auf eine Nachricht von mir gewartet. Es tut mir Leid, dass ich dich telefonisch nicht erreichen konnte, hoffe aber, dass eure nette Dame am Empfang dir meine Nachricht ausgerichtet hat. Leider warst du auch das ganze Wochenende nicht erreichbar. Wo warst du?
Tja, also hier erst einmal ein paar Worte zur aktuellen Lage: Jörg war in furchtbarer Verfassung, als ich ihn am Freitagnachmittag nach der Untersuchung bei einem Spezialisten in Eppendorf abholte.. Um ihn aufzuheitern, habe ich kurz entschlossen einen Koffer gepackt, und wir sind zusammen für ein paar Tage auf seine Lieblingsinsel Föhr gefahren. Wir haben wieder unser kleines Stamm-Apartment buchen können, das wir immer so schön finden. Ich denke, wir werden ein bis zwei Wochen bleiben. Die Luft, die Ruhe und die Schönheit der Insel bekommen Jörg ausgezeichnet. Meine Kanzleichefs waren mit meiner Beurlaubung auf unbestimmte Zeit einverstanden, und ich glaube, dass die Entscheidung, meinem Mann in dieser schweren Zeit beizustehen, richtig ist. Ich habe auch mit meinem Bruder Johannes und mit meinen Eltern gesprochen. Sie wissen natürlich nichts von dir und mir, und ich könnte es ihnen jetzt auch nicht erklären, ohne mich wie ein Lump zu fühlen.
Bitte sei wegen dieser Entwicklung nicht verletzt, aber Liebe geht manchmal seltsame Wege, und es gibt Zeiten, in denen man seine eigenen Bedürfnisse und Ansprüche zurückstecken muss. Du bist die Liebe meines Lebens, das sollst du wissen - und das weißt du auch! Ich liebe meinen Mann natürlich auch, nur anders. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken kann, ohne dass es gemein klingt. Ich sage mal so: Ich habe noch nie ein so intensives Gefühl der Zusammengehörigkeit wie mit dir erlebt. Es ist, als ob ich in dir meine verlorene Kugelhälfte gefunden habe, und unser Zusammensein uns erst vollständig und rund macht. Mit Jörg bin ich nun fünf Jahre verheiratet; er war gut zu mir, und er liebt und braucht mich - jetzt mehr denn je!
Liebster Tobias, ich habe dir versprochen, dass wir in diesen Wochen Kontakt halten und uns regelmäßig sehen werden. Ich habe jedoch nicht die Kraft, dieses Versprechen einzuhalten - es würde mich umbringen! Jörg braucht jetzt einen Menschen an seiner Seite, der ihm Kraft und Zuversicht gibt.
Deshalb bitte ich dich, Liebster, mir zu verzeihen. Wenn alles vorbei ist und ich mich wieder in Ruhe meinen eigenen Belangen widmen kann, dann wird es vielleicht eine zweite Chance für uns beide geben (wenn du dann überhaupt noch willst?). Bis dahin behalte mich bitte in liebevoller Erinnerung. Wenn du mich auch liebst, dann zeige es mir, indem du mir erst einmal Ruhe und Zeit gibst. Melde dich bitte die nächsten Wochen nicht - ich könnte es nicht aushalten! Wir müssen jetzt
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