Milchmond (German Edition)
verknotet war, endete oberhalb des Nabels.
Das Gesicht war nicht zu sehen, denn auch der Kopf war unter einem weißen Seidentuch verborgen, darunter zeichneten sich die dunklen Konturen einer Augenmaske ab. Trocken schluckte Tobias den Kloß hinunter, der ihm seit Betreten des Zimmers zu schaffen machte. Jetzt bemerkte er das mit schwungvoller Handschrift beschriebene Papierschild, das unter ihren sich langsam öffnenden Schenkeln zum Vorschein kam:
Deine stumme Liebessklavin harrt deiner Befehle
- mach mit mir, was dir beliebt, Gebieter!
Wieder und wieder erinnerte sich Tobias später an diese Szene und zermarterte sich vergeblich den Kopf, warum er nicht früher stutzig wurde? Die Situation hatte ihm das Hirn vernebelt. Er erinnerte sich nur vage daran, dass er sich rasch seiner Kleidung entledigte, sich neben sie auf das Bett hockte und dann begann, ihren Körper mit dem wohl duftenden Massageöl, das er aus der Parfümerie mitgebracht hatte, langsam zu massieren. Ihr fester Bauch wölbte sich seinen kräftigen Händen verlangend entgegen. Er bemerkte seinen fatalen Irrtum erst, als er das Tuch über ihrer Scham beiseite zog und die blonden, kurz geschorenen Härchen entdeckte, die eindeutig nicht zu Julia gehörten! Alarmiert zog er daraufhin, das den Kopf verdeckende Tuch mit einem Ruck weg - zum Vorschein kam ein blonder Haarschopf und ihm sehr vertraute Gesichtszüge: Die hoch angesetzten Wangen-Knochen, die herzförmigen, dunkelrot geschminkten Lippen, die schneeweiße Zähne einrahmten. Vor ihm lag Sylvia!
Geschockt fuhr er hoch und brauchte Sekunden, um die neue Lage zu erfassen. Sylvia, durch die Augenmaske keinen Blickkontakt zu ihm, bemerkte seine Schreck-Situation nicht. Still lag sie da. Er vernahm nur ihre stoßweisen Atemzüge und die zarten New-Age-Klänge, die das Zimmer durchwehten. Die Geräuschkulisse prägte sich unlöschbar in seine Erinnerung ein. Dieser Moment des Erkennens verzerrte seine Zeit-Wahrnehmung; es waren sicher nur Sekunden, wenn überhaupt, sie kamen ihm jedoch wie eine Ewigkeit vor! In diesen Sekunden passierten mehrere Dinge gleichzeitig: Sein Atem setzte aus, archaische Instinktmuster flammten auf und hämmerten hinter seiner Stirn: Nichts wie weg! Sein Körper spannte sich reflexartig an, bereit zur Flucht. Adrenalin jagte seinen Puls noch höher als er schon war, verzweifelt bemühte er sich um einen klaren, logischen Gedanken, vergeblich; die Flutwelle der in sein Blut gepumpten Hormone hinderten ihn am Denken und dann passierte das, was der instabilen Situation den vermutlich entscheidenden Ausschlag gab: Seine stumme Liebessklavin nutzte die aktionslose Szene, um sich nun ihrerseits aufzurichten und sich zu ihm hinüber zu beugen. Seine Erinnerung endete, als ihre Lippen seine Haut berührten und ihn zu liebkosen begannen...
Erst am späten Sonntagvormittag räumten sie das Zimmer. Nach der überraschenden Verwechslungs-Geschichte vergaß Tobias seine anfänglichen Skrupel rasch und genoss stattdessen die intensiven, erotischen Spielchen mit Sylvia ausgiebig. Sein schlechtes Gewissen, Julia gegenüber, betäubte er mit dem rechtfertigenden Gedanken: Sie hat mich ja schließlich verlassen und nicht ich sie!
Tief in seinem Innern sagte ihm die leise Stimme, dass das so nicht stimmte, er verdrängte sie jedoch - wollte sie nicht hören. Den Samstagabend verbrachten sie in der Spielbank und gingen danach noch auf einen Sprung in den Jazz-Club, bevor sie noch vor Mitternacht wieder ihr Liebesnest bezogen und da weiter machten, wo sie erst wenige Stunden zuvor aufgehört hatten.
Tobias kam es beinahe so vor, als hätte es die Trennung von immerhin einem halben Jahr Dauer überhaupt nicht gegeben. Schnell war die alte Vertrautheit zwischen ihnen wieder gegenwärtig. Sex mit Sylvia war schon immer aufregend - dieses Wochenende hatte sie noch eins drauf gesetzt, hatte ihrer zügellosen Fantasie noch mehr die Sporen gegeben und ihn mit einigen neuen Spielvarianten in Atem gehalten. Sie wusste eben nur zu genau, was ihn richtig anmachte, und sie war tabulos und experimentierfreudig genug, immer neue Grenzen auszuloten.
***
Der Brief erreichte ihn erst am Mittwochabend. Bis dahin hatte er keinerlei Nachricht von Julia erhalten, was ihn in seinem Gefühl, von ihr verlassen worden zu sein, nur bestärkte.
Der Tag war ohnehin schon hart genug gewesen; es gab bei einem seiner Prozesse eine
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