Milchmond (German Edition)
Bilder ins Hirn katapultierte. Er wäre nicht Tobias Steinhöfel gewesen, wenn er die knappe Zeit bis dahin nicht dazu genutzt hätte, eigene Pläne zu schmieden. Er hasste es, unvorbereitet zu sein, und so nahm der vor ihm liegende Abend vor seinem inneren Auge bereits erfreuliche Gestalt an.
Pochenden Herzens überquerte er die ruhige Altonaer Seitenstraße. Er hatte sich für den Check-In einige passende Worte zurechtgelegt, doch glücklicherweise war der Empfang unbesetzt, als er das kleine Hotel betrat. Ein Hinweisschild auf dem Tresen verwies auf einen elektrischen Klingelknopf, der bei Bedarf das Personal herbeiläutete. Tobias hatte keinen Bedarf und dachte nicht daran, die Klingel zu benutzen.
Nachdem er rechts vom Empfang, neben dem Frühstücksraum, das Treppenhaus erspähte, ging er schlanken Schrittes, ohne zu zögern dorthin und stieg beherrscht Stufe für Stufe die steinerne Treppe leise empor. Seine Uhr zeigte zehn Minuten nach neunzehn Uhr. Er hatte absichtlich einige Minuten verstreichen lassen, um die erotische Spannung und ihre gemeinsame Fantasie noch ein wenig mehr anzuheizen. Der goldene Pfeil an der Wand des zweiten Treppenabsatzes wies nach rechts zu den Zimmern 101 - 112. Der schmale Korridor war fensterlos und mit einem dunkelroten Blümchenteppich ausgelegt; geschmackvolle Messing-Wandlampen sorgten für diskrete Beleuchtung.
Als er nun vor der hell gemaserten Holztür mit der Aufschrift 109 stand, irritierte es ihn, dass sie geschlossen und nicht, wie angekündigt, nur angelehnt war. Das rote Stopp-Schild Bitte nicht stören! gab ihm jedoch die Gewissheit, vor der richtigen Tür zu stehen. Er atmete zweimal tief durch und lauschte; im Haus herrschte eine fast unheimliche Ruhe. Die Parfümerietüte in die linke Hand wechselnd, drückte er mit der rechten vorsichtig am Türknauf. Die Tür gab lautlos nach, schwenkte nach innen auf, der Pappstreifen, der den Riegel blockiert hatte, fiel zu Boden.
Dämmerlicht herrschte im Zimmer, denn die schweren Vorhänge der Fenster waren zugezogen. Durch den kleinen Vorflur konnte er das Fußende eines Bettes ausmachen und erblickte aufreizende, seidenmatt-bestrumpfte Frauenwaden, die darüber hinaus ragten und unterhalb der Riemchen umschlungenen Knöchel in goldenen Stilettos endeten, die auf dem Teppich davor standen. Sein Blickfeld war aus dieser Perspektive begrenzt und endete kurz oberhalb ihrer abgeknickten Knie.
Leise bückte er sich, hob den Pappstreifen auf und schloss geräuschlos die Tür. Er bemühte sich, beim Verriegeln so wenig Geräusch wie möglich zu machen, doch sie hörte ihn offensichtlich trotzdem, denn ihre Beine, die vorher still und ruhig gestanden hatten, begannen leicht zu beben. Es erinnerte ihn an das Flügelpumpen eines Schmetterlings, kurz vor dem Abflug. Leise, auf den Fußspitzen schleichend, tappte er durch den engen Vorraum, und nun öffnete sich vor ihm ein atemberaubendes Bild, das ihm noch lange in Erinnerung bleiben sollte:
Links und rechts des französischen Bettes standen jeweils zwei dunkelrote Gläser mit Teelichtern. Die unruhig flackernden Flammen zauberten bizarre Schattenmuster an die Wände. Wohlklingende, harfenähnliche Töne, die an Meditationsklänge der New-Age-Bewegung erinnerten, entströmten offensichtlich einem MP3-Player, der mit einer Verstärkerbox verbunden, auf dem Nachttisch stand. Neben der TV-Konsole stand ein Tablett mit mehreren Schälchen, die mit aromatischen Flüssigkeiten gefüllt zu sein schienen, denn ein wohltuendes, schweres Duftkonglomerat erfüllte den Raum.
Die Atmosphäre glich einer Szene aus Tausend-und-einer-Nacht. Am Eindrucksvollsten war natürlich der wunderschöne Frauenkörper, der sich ihm auf einem blassrosa Seidenüberwurf mit bebenden, pumpenden Schenkeln darbot. Langsam ließ er seinen Blick von ihren Knien empor gleiten: Die halterlosen Strümpfe endeten in einem dunkleren Bündchen, darüber folgten einige Zentimeter nackter Haut. Ihre Scham wurde von einem weißen Seidentuch bedeckt. Der tiefe Nabel hob und senkte sich unter erregten Atemzügen. Sie trug eine offene Seidenbluse, die ihre wohlgeformten Brüste seinem Blick schutzlos freigaben. Beide Arme waren hoch über ihrem Kopf verschränkt, die Handgelenke mit einem weißen Tuch gefesselt. Der schlanke Hals mit der tiefen Kehlsenke zwischen den sich deutlich abzeichnenden Halssehnen, pochte im Rhythmus ihres beschleunigten Pulses. Eine lange Perlenkette, die vor ihrer Brust
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