Milchmond (German Edition)
Sport, sie begann, lustlos in einem Krimi zu lesen, den sie im Lesekorb des Hauses gefunden hatte.
Gegen Nachmittag hielt sie es nicht mehr aus und fuhr, ohne sich zu verabschieden, zum Südstrand. Sollte er doch allein weiter maulen! Sie hatte seine Sprachlosigkeit und seine vorwurfsvollen Blicke gründlich satt!
Am Strand war es menschenleer. Auf dem Dünenkamm verharrte sie einen Augenblick, stand still am oberen Absatz der Strandtreppe und genoss den Blick. Der Wind trug ihr den salzigen Geruch des Meeres zu. Die Flut hatte eingesetzt, das rasch zurückkehrende Meer gewann den muschelübersäten, dunklen Meeresboden zurück und überspülte ihn. In der Ferne zogen Fähren gemächlich ihre Bahnen. Sie ließ ihren Blick schweifen. Vor ihr lag die Nachbarinsel Amrum, weiter links sah sie die Warften von Langeneß. Es sah aus, als stünden die Bäume und Häuser direkt auf dem Wasser. Ein immer wieder unvergesslicher Anblick! Tief durchatmend stieg sie die Holztreppe hinab zum Strand und marschierte los, Richtung Wyk.
Nur vereinzelt kamen ihr Spaziergänger entgegen. So hatte sie Zeit, ungestört ihren Gedanken nachzuhängen. Immer wieder registrierte sie dabei, dass sie an Tobias dachte. Ihre Wut auf ihn war verflogen und hatte einer tiefen Sehnsucht Platz gemacht. Was er jetzt wohl trieb? Ob er sie auch vermisste? Hatte er sich wirklich wieder mit seiner Ex zusammengetan?, wie es Jeanette vermutete. Bei diesen Gedanken wurde ihr das Herz schwer, sie versuchte, die quälenden Fragen beiseite zu schieben. Nur nicht daran denken!
Fast unbemerkt setzte nach einiger Zeit leichter Nieselregen ein, der ihr ins Gesicht wehte. Der Himmel präsentierte sich nun zugezogen und bleigrau eingefärbt. Als sie sich schließlich zur Umkehr entschloss, klebten ihr die nassen Haare bereits an der Stirn. Den Kragen des Anoraks hochgeklappt und den Reißverschluss bis oben zugezogen, konnte ihr die Nässe jedoch nicht so sehr viel anhaben.
Nach einigen Minuten hörte sie Stimmen und Pferdeschnauben hinter sich. Überrascht, denn sie hatte zuvor weit und breit keine Seele ausgemacht, drehte sie sich um. Zwei Reiterinnen waren im gestreckten Galopp zu ihr aufgeschlossen, brachten nun mit beruhigenden Worten und Tätscheln ihre Pferde zur Ruhe und ließen sie in eine ruhigere Gangart fallen.
Welch ein schöner Anblick!, schoss es ihr durch den Kopf und sie bewunderte die Bewegungen der anmutigen Tiere, die mit dampfenden, nass glänzenden Leibern, nun mit gestelztem Gang, rhythmisch mit den Köpfen nickend, an ihr vorbeizogen. Schritt um Schritt stempelten sie ihre Hufeisenspur in den feuchten Sand.
Hoch aufgerichtet, bei jedem Schritt majestätisch aus den Sätteln federnd, zogen die beiden jungen Reiterinnen freundlich grüßend an ihr vorbei. Unwillkürlich folgte Julia mit ihren Schritten der doppelten Hufeisenspur, die sich deutlich im feuchten Sand abzeichnete. Bis die nächste Flut sie wieder ausradieren würde, vergänglich wie alles im Leben...
Lange sah sie ihnen nach, bis die beiden Reiterinnen ihre Tiere nach einigen Minuten wieder in einen gestreckten Galopp fallen ließen und dann, rasch kleiner werdend, aus ihrem Blickfeld verschwanden.
Es mochten gut zwei Stunden vergangen sein, bis Julia wieder an den Ausgangspunkt ihres Marsches zurückkehrte. Sie nahm ein Handtuch aus dem Wagen und frottierte sich die Haare trocken. Dabei fiel ihr Blick auf das ovale, weinrote Hinweisschild mit dem Pfeil, der die Richtung zum nahe gelegenen Kliff-Café wies. Spontan entschloss sie sich, dorthin zu gehen. Ihre Füße schmerzten und sie brauchte dringend etwas zum Aufwärmen.
Das Lokal war um diese Zeit gut gefüllt. Sie hatte Glück und ergatterte einen freien Sitzplatz am Fenster; die beiden älteren Damen, die bereits an dem Tisch saßen, stellten ihn ihr freundlicherweise zur Verfügung.
Die beiden ließen sie gottlob unbehelligt und waren in ihr eigenes Gespräch vertieft. Julia hörte nicht hin, sondern genoss den heißen Tee, den ihr die Bedienung erstaunlich schnell servierte. Plötzlich kam ihr eine Idee, und sie winkte die Kellnerin noch einmal zu sich heran. »Ich würde gerne einen Brief schreiben, haben Sie vielleicht einige Bogen Briefpapier und einen Umschlag?« Schon beim Fragen fand sie ihr Ansinnen töricht, doch erstaunlicherweise entgegnete die junge Frau: »Kommt sofort! Ich bringe Ihnen gleich, was sie brauchen!« Als würde sie häufiger nach
Weitere Kostenlose Bücher