Milchrahmstrudel
Stunde zu spät kommen.« Sie fing sich jedoch viel rascher als Fanni. »Na und – ging halt nicht früher. Ich hatte nämlich einen Asthmaanfall.« Sie begann übertrieben zu keuchen und zu hecheln.
Fanni klemmte sich hinter den Rollstuhl und schob ihn im Laufschritt den Flur hinunter. Beim Aufzug nahm sie die Kurve zu eng. Das linke Vorderrad blieb an der Ecke hängen, der Rollstuhl geriet in Schräglage und drohte zu kippen. Nur mit Mühe hielt Fanni ihn aufrecht.
»Fannilein, so geht das nicht«, beschwerte sich Tante Luise. »Auf fünf Minuten hin oder her kommt es jetzt wirklich nicht mehr an. Und wenn mir nach einer Achterbahnsause gewesen wäre, hätte ich mir die Malteser bestellt. Die jungen Zivis da pesen nämlich mit den Rollstühlen, als wären sie nicht in der Katherinenresidenz, sondern auf dem Hockenheimring. Aber mir, Fannilein, mir ist nicht mehr nach Autorennen, nicht nach Achterbahn und auch nicht nach Kettenkarussell. Mir ist nach Walzergondel und Ringelspiel.«
Es ging schon auf sechs Uhr zu, als Fanni und Luise Rot in die Katherinenresidenz zurückkehrten.
Nachdem die neue Brille angepasst und bezahlt war und sich Tante Luise für eines der Brillenetuis entschieden hatte, die ihr der Optiker mit der Bemerkung »Kleine Aufmerksamkeit unseres Hauses« zur Auswahl vorgelegt hatte, war es für sie nicht in Frage gekommen, den Ausflug schon zu beenden.
»So, Fannilein«, hatte sie gesagt, »wenn wir schon mal mitten auf dem Stadtplatz sind, dann gönnen wir uns ein Eis.« Dabei hatte sie ihren Zeigefinger in östlicher Richtung in die Luft gestochen. »Und zwar da drüben bei Wiedemann. Das Café gab es nämlich schon, als ich noch Petticoats getragen und mit meinem Herbert Rock ‘n’ Roll und Cha-Cha-Cha getanzt hab.«
Fanni hatte den Stadtgründern insgeheim dafür gedankt, dass der Deggendorfer Stadtplatz ebenflächig vor ihr lag und nicht steil anstieg wie der in Zwiesel, und hatte Luises Rollstuhl unter einen der Sonnenschirme vor dem Café Wiedemann geschoben.
Da hatten sie dann gesessen, den Stadtplatz hinauf- und hinuntergeschaut, das Treiben rings um sich herum kommentiert, und Tante Luise hatte sich nach dem Eis noch eine heiße Schokolade bestellt und einen Schokomuffin dazu. Um halb sechs hatte sie sich endlich bereit erklärt, in die Katherinenresidenz zurückzukehren. Fanni hatte den Rollstuhl eilig durch die Pfleggasse geschoben.
Auf Höhe des Westlichen Stadtgrabens hatte Luise mit ihrem Zeigefinger nach Süden gedeutet, dorthin, wo die Stadthallen und das Parkhotel lagen. »In der Grünzone hinterm Hotel hat die Nagel immer Enten gefüttert, früher, als sie noch besser dran war – vor ihrem zweiten Schlaganfall, um genau zu sein.« Luise hatte den Hals gereckt und versucht, einen Blick auf die Kreuzung zu erhaschen, hinter der sich besagte Anlage befand. Dann hatte sie angewidert den Mund verzogen. »Die Nagel konnte sich stundenlang damit beschäftigen, den paar zerfledderten Enten und dem grindigen Schwan in dem schlammigen Tümpel Brotkrumen hinzustreuen.« Gleich darauf hatte sich Luises Miene verändert, war hart und erbarmungslos geworden. »Ganz dicht war sie noch nie, die Nagel.«
Fanni hatte insgeheim dem Rot’schen Genpool dafür gedankt, dass Tante Luise den städtischen Wasservögeln und der hinfälligen Frau Nagel viel zu wenig Sympathie entgegenbrachte, um noch auf einem Abstecher in jene Grünanlage zu beharren.
Sechs, dachte Fanni. Hans wird heute wieder ein verspätetes, improvisiertes Abendbrot bekommen.
Er wird sich kaum darüber beschweren! Oder sollte er inzwischen vergessen haben, wer der eigentliche Betreuer von Tante Luise ist?
Im Schneckentempo schob Fanni den Rollstuhl durch die Allee zum Eingang der Katherinenresidenz. Sie war müde, und ja eben, auf fünf Minuten hin oder her kam es jetzt erst recht nicht mehr an.
Ein paar Schwestern auf dem Weg nach Hause eilten vorbei. Durch die Glastür zum Foyer konnte man einen schlanken, hochgewachsenen Herrn mit dem Pflegedienstleiter diskutieren sehen.
Das muss Dr. Benat sein!
Natürlich war es Dr. Benat. Fanni kannte ihn ja aus der Zeitung, und in der Katherinenresidenz war sie auch schon ein-, zweimal auf ihn aufmerksam gemacht worden.
Benat war etwa in Fannis Alter, sechzig oder knapp darüber. Er schaute freundlich, fast väterlich durch seine randlose Brille auf Erwin Hanno hinunter und lächelte plötzlich ein derart ermutigendes Lächeln, dass sich der Pflegedienstleiter
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