Miles Flint 01 - Die Verschollenen
drinnen hören.
Flint hatte keine Ahnung, was in dem Raum vor sich ging. Er hatte nie die Gelegenheit bekommen, so eine Wahl zu treffen. Eines Tages hatte er seine Tochter in die Tagesstätte geschickt, und am Ende war sie tot gewesen.
Tatsächlich war er sich aber auch nicht sicher, ob er wirklich eine Gelegenheit hätte haben wollen, sie noch ein letztes Mal lebendig zu sehen – und er war auch nicht sicher, ob er die Möglichkeit ausgeschlagen hätte.
»Probleme?«, fragte einer der Polizisten vor der Tür. Er war schlank, jünger als Flint und trug die allgemeine kummervolle Stimmung zur Schau, die manche Polizisten von Berufs wegen anzunehmen schienen.
Flint schenkte ihm ein verhaltenes Lächeln. »Nichts Unerwartetes.«
Er ging quer über den Korridor, lehnte sich an die gegenüberliegende Wand und widerstand dem Bedürfnis, die Suite mit den Kindern aufzusuchen, Ennis in den Arm zu nehmen und sich vorzustellen, er wäre Emmeline.
Flint seufzte leise. Emmelines Tod hätte verhindert werden können. Hätte es nach dem vorangegangenen Todesfall in ihrer Tagesstätte eine ordentliche Untersuchung gegeben, wäre Emmeline noch am Leben. Stattdessen hatten die Detectives seinerzeit angenommen, das erste Kind sei durch irgendeinen bizarren Unfall ums Leben gekommen. Erst durch Emmelines Tod war schließlich herausgekommen, dass eine ungeduldige Betreuerin weinende Kinder so sehr geschüttelt hatte, dass sie gestorben waren. Sie hatten zwei Kinder getötet. Ein anderes kleines Mädchen und Emmeline.
Die Tür zum Besprechungsraum wurde geöffnet. Mr. Kanawa steckte den Kopf heraus. »Wir möchten ihn jetzt sehen.«
Flint nickte. Die Entscheidung überraschte ihn nicht.
Er stieß sich von der Wand ab und winkte Mr. Kanawa zu, sich zu ihm zu gesellen. Mrs. Kanawa folgte ihnen. Flint eskortierte das Paar durch den Korridor zur Suite.
Er klopfte – viermal, scharf und kurz – der Code, der die Harkens anwies, Jasper in sein Zimmer zu bringen und dafür zu sorgen, dass er dort blieb.
»Ich nehme an, Sie wollen Ennis wieder zu sich nehmen«, sagte Flint.
Mr. Kanawa nickte.
»In diesem Fall muss ich Sie daran erinnern, dass es gegen das Gesetz verstößt, sollten Sie Ennis aus der Armstrongkuppel herausbringen. Sollten Sie und Ihre Familie sich zur Flucht entscheiden, würden die Wygnin, die Behörden von Armstrong und die der Erdallianz Haftbefehle für Sie ausstellen. Sie würden eine Vielzahl von Gesetzen brechen, und Sie würden sich ebenso wie Ihr Kind in große Gefahr begeben.«
»Das ist uns bewusst«, schnappte Mrs. Kanawa. »Wir werden einen Anwalt engagieren.«
Als würde das irgendetwas besser machen. »Es war meine Pflicht, Sie darüber zu informieren, damit Sie nichts Unbesonnenes tun.«
»Das werden wir nicht«, erwiderte Mr. Kanawa.
Flint nickte und wünschte, er könnte ihnen glauben. Dann öffnete er die Tür der Suite.
Eine fremde Frau hielt Ennis auf dem Arm. Ihre Haut war so weiß; sie schien in dem trüben Licht in dem Raum beinahe zu glühen. Ennis zappelte aufgeregt.
Jamal fühlte, wie eine Flut von Emotionen auf ihn hereinprasselte, von der Freude, dass sein Sohn am Leben war, bis hin zu der entsetzlichen Furcht, ihn wieder zu verlieren. So tapfer er sich dem Polizisten gegenüber auch gegeben hatte, er wusste doch genau, dass seine Chancen, diesen Kampf zu gewinnen, verschwindend gering waren.
Dylani stieß einen leisen Schrei aus und rannte quer durch den Raum. Es roch vage nach schmutzigen Windeln und Pizza. Jamal sah sich zur Küche um, hoffte, dass Ennis nichts Ungeeignetes zu essen bekommen hatte.
Dann musste er über sich selbst lächeln. Das war im Augenblick wirklich seine geringste Sorge.
Ennis quietschte fröhlich, als er seine Mutter sah, lehnte sich aus den Armen der Fremden und streckte die Ärmchen nach Dylani aus. Jamals Augen brannten. Er würde unter vier Augen mit dem Anwalt sprechen müssen, um herauszufinden, ob er irgendetwas tun konnte, irgendetwas, bei dem seine Familie außen vor bliebe.
Der Detective, Flint, war neben ihm aufgetaucht. »Einen hübschen Burschen haben Sie da.«
»Ja«, sagte Jamal. Er hatte das Gefühl, an Ort und Stelle festgewachsen zu sein. Dieser Augenblick gehörte Dylani. Sie drückte Ennis so fest an sich, dass er ein protestierendes Grunzen von sich gab, aber auch er klammerte sich an sie, und seine rundliche Faust krallte sich in die Rückseite ihres Hemds.
»Sie und Ihre Frau haben sehr unterschiedlich auf den Verlust
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