Miles Flint 01 - Die Verschollenen
den Siebzigern und in Topform. Neben ihr saß Xival, eine Peyti, deren durchschimmernde Haut vor dem Hintergrund der Wände im Besprechungszimmer grau aussah. Xival trug eine Atemmaske, die ihre außerirdischen Züge noch unkenntlicher machte. Ihre langen Finger lagen wie drei Schwänze, die direkt aus ihren Handgelenken wuchsen, auf dem Tisch.
Wunderbar. DeRicci hätte am liebsten das Gesicht verzogen, hielt sich aber im Zaum. Nun hatte sie es gleich mit zwei verschiedenen Alienspezies und ihren jeweiligen Sitten zu tun. Die Peyti hatten nicht viel für die Wygnin übrig, aber sie hatten auch einen ausgeprägten Sinn für Ehrbarkeit, was sie zu perfekten Vertretern multikultureller Gesetze machte. Xivals Anwesenheit war ein schlechtes Zeichen für die Kinder.
DeRicci schloss die Tür hinter sich, stellte den Kaffee auf den Tisch und setzte sich. Sie fühlte sich furchtbar isoliert. Sieben gegen eine. Plötzlich kam ihr die ganze Sache unfair vor.
DeRicci hatte die Anwälte kontaktiert, die gestern dabei gewesen waren, und die hatten ihr erklärt, sie solle ihnen berichten. Feiglinge. Alles Feiglinge. Genau wie sie, wenn sie ehrlich war. Dummerweise war sie diejenige, die hier festsaß.
»Warum haben Sie mich so früh hergerufen?«, fragte sie.
Solar lächelte. Ihr Gesicht hatte eine weiche Struktur. Sie hatte einige unauffällige Modifikationen vornehmen lassen, die die Auswirkungen des Alters zwar milderten, die Würde jedoch nicht minderten, die bisweilen mit fortschreitendem Alter einherging. Manchmal wünschte DeRicci sich, sie hätte mehr Geld. Sie hätte in dreißig Jahren zu gern so ausgesehen.
»Sie haben gefordert, dass meine Klienten Ihnen nicht nur die Aktenzeichen der Vollmachten liefern, sondern auch die Vollmachten selbst. Ich habe sie hier.«
Solar schob ihr einen Handheld über den Tisch.
»Sie hätten sie auch in mein System schicken können«, sagte DeRicci, der es nicht gefiel, die Vollmachten in Anwesenheit der Wygnin prüfen zu müssen.
»Im Interesse einer schnellen Bearbeitung«, erklärte Solar, »hielten wir es für besser, Ihnen die Vollmachten hier vorzulegen. Dann können Sie meine Klienten gleich wieder mit ihren Kindern zusammenführen und sie ihrer Wege ziehen lassen.«
»Das sind nicht ihre Kinder«, gab DeRicci zurück.
»Nach dem Gesetz sind sie es.« Das war Xival. Ihre Stimme klang knirschend durch die Maske.
»Dieser Punkt ist bisher noch nicht geklärt.« DeRicci war nicht bereit, auch nur im Mindesten nachzugeben. Sie traute Anwälten noch weniger als den Wygnin. Falls sie nun auch nur ein falsches Wort sagte, fürchtete sie, die Anwälte könnten es später gegen sie – oder gegen die Kinder – verwenden.
DeRicci zog sich den Handheld heran. Der Monitor bot ihr die Wahl: Audio oder Text; Englisch, Standardkorsven oder modifiziertes Korsven. Sie konnte etwas Korsven lesen, sogar unmodifiziert, was für das ungeübte Auge aussah wie eine Reihe gleich langer Striche, aber sie wählte den englischen Text.
Die Vollmachten waren alt, beide älter als zehn Jahre. Sie waren von dem Gericht erteilt worden, dem Achten Multikulturellen Tribunal, zu dessen Gerichtsbezirk auch Korsve gehörte.
Beide Vollmachten waren knapp gehalten. Sie führten den Namen des Verurteilten auf, gefolgt von dem Urteil und der gerichtlichen Anweisung, die es den Wygnin gestattete, das Urteil zu vollstrecken.
DeRicci waren die Namen auf beiden Vollmachten unbekannt. Die Urteile waren unterschiedlich, was sie verwunderte. Eine Vollmacht – die neuere – verlangte traditionsgemäß das erstgeborene Kind des oben genannten Täters.
Die zweite Vollmacht forderte dagegen ein Familienmitglied nach Wahl aus der Familie des Täters. DeRicci starrte sie einen Moment lang schweigend an. Das zweite Urteil schien weniger streng zu sein, bis sie ernsthaft darüber nachdachte.
Das zweite Urteil zwang eine Person, unter den Leuten, die sie liebte, eine auszuwählen, zwang sie, bevorzugte Familienmitglieder zu schonen, um das am wenigsten geliebte Mitglied der Gruppe zu opfern – oder das verhassteste. Aber was geschah, wenn der Täter seine Familie liebte, sie bis zur Raserei liebte? Was, wenn es keine offensichtliche oder passende Wahl gab?
DeRicci schauderte. Sie studierte die Vollmachten noch einen Augenblick lang, ehe sie den Handheld über den Tisch zu Solar zurückschob, woraufhin diese ihr zuwinkte.
»Behalten Sie ihn«, sagte sie.
DeRicci zog die Hand weg und ließ den Handheld in der Mitte
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