Miles Flint 02 - Die Lautlosen
aussehenden Menschen. Oliviari konnte den großen Pulk der Läufer nicht sehen, aber sie fragte sich, was die über diese Situation denken mochten, falls sie überhaupt davon wussten.
Während sie voranstolperte, dachte sie kurz an ihren Posten, daran, wie wichtig es ihr gewesen war, die DNA-Proben zu sammeln und mit all den Läufern zu sprechen, die zurückgekehrt waren, und wie unwichtig das alles jetzt war.
Seltsam, sich vorzustellen, Jane Zweig wäre tot, Frieda Tey wäre möglicherweise – vermutlich – tot, und ihr Virus verbreitete sich wie eine gigantische Wiederauferstehung jenes Experiments, das ihr beim ersten Mal eine Anklage eingetragen hatte.
Tokagawa zog Oliviari an einer Gruppe Läufer vorbei, die auf dem Boden kauerten und Wunderwasser tranken. Keiner von ihnen schien Symptome zu haben; aber sie berührten immer wieder ihre Stirn, als wollten sie sich vergewissern, nicht fiebrig zu sein. Ein Sanitäter mit einem Diagnosestift stand neben der Gruppe, als wage er nicht, näher zu treten.
Vielleicht hatte Frieda Tey das alles geplant. Vielleicht hatte sie, als sie Jahr für Jahr unter dem Namen Jane Zweig am Marathon teilgenommen hatte, davon geträumt, ihr Experiment zu wiederholen, es dieses Mal richtig zu machen. Vielleicht war ihr in den Sinn gekommen, dass sie es in dieser Umgebung mit all ihren Einrichtungen und ihrem medizinischen Wissen dieses Mal schaffen könnte. Und mit einer Bevölkerung, die groß genug war, um festzustellen, ob sich ihre Theorie verifizieren ließ.
Bis jetzt schien das nicht der Fall zu sein. Wenn eine extreme Notsituation das Beste im Menschen hervorzubringen imstande wäre – wenn sie die Menschen zwingen würde, sich über ihre persönlichen Grenzen hinaus zu entwickeln, wichtige Entdeckungen oder komplizierte intuitive Sprünge zu machen –, dann war diese Notsituation vielleicht nicht extrem genug.
Doch vielleicht war Tokagawas Reaktion auch ganz einfach normal. Panik. Verwirrung. Die Bereitschaft eines brillanten Mannes, sich ganz plötzlich der Führung einer nicht so brillanten Frau zu überlassen, nur weil sie diejenige war, die einen Plan hatte.
Oliviari trat in den durch einen Vorhang abgetrennten hinteren Bereich. Da war die Dekon-Einheit, ein unabhängiges System einer Bauart, die ihr vollkommen fremd war. Tokagawa blieb vor der Einheit stehen.
»Ich weiß nicht, was Sie damit anstellen wollen«, sagte er.
Sie schon. Oliviari hatte sämtliche notwendigen Schriften gelesen. Und sie wusste, dass das Tey-Virus, nachdem es bekannt geworden war, registriert worden war und von neueren Einheiten zerstört werden konnte. Ältere Systeme konnten jedoch nicht umgerüstet werden, um dieses Virus zu bekämpfen, nicht einmal mit einem Korrekturprogramm.
Oliviari musste nur herausfinden, wann diese Dekon-Einheit hergestellt worden war und ob sie auf das Tey-Virus programmiert war.
Klang einfach, war es aber nicht. Zuerst musste sie sich mit der Einheit vertraut machen.
Oliviari kletterte hinein und roch die wiederaufbereitete Luft. Das Innere der Einheit fühlte sich klamm an – aber vielleicht hatte sich auch nur ihre Körpertemperatur wieder verändert. Sie suchte nach der Schalttafel, wusste, sie würde die benötigten Informationen erhalten, hatte sie sie erst gefunden.
Tey hatte die Tatsache, dass Zeit in ihren Experimenten einen so kritischen Faktor darstellte, nie akzeptiert. Sie hatte nie etwas dergleichen in ihren Artikeln eingeräumt; sie hatte niemals auch nur in Betracht gezogen, dass die Kolonisten, hätten sie nur mehr Zeit mit diesem letzten, tödlichen Virus gehabt, vielleicht eine Möglichkeit gefunden hätten, die Krankheit aufzuhalten.
Hätte Tey das Virus bei der Marathonveranstaltung freigesetzt, um ein neues Experiment zu beginnen – ein Experiment in einem sogenannten geschlossenen Systems was auch nicht wirklich korrekt war, bedachte man die Raumhäfen und Oberflächenzüge –, dann würde sie feststellen, dass Zeit hier ein ebenso großes Problem darstellte wie in der ersten Kuppel.
Und dann ging Oliviari ein Licht auf. Endlich wusste sie, was Tey im Schilde führte.
Zweig war Tey, eindeutig, ohne jeden Zweifel. Oliviari brauchte keine DNA-Untersuchung. Sie brauchte nicht mehr als Logik.
Nur wenn Zweig und Tey ein und dieselbe Person waren, ergab alles einen Sinn. Tey hatte den Marathon und andere Extremsportarten studiert. Sie hatte darüber nachgedacht, wie Menschen reagierten und interagierten. Sie hatte sich schlecht
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