Milliardengrab (German Edition)
er sich nicht innerhalb einer Stunde meldet, dann lasse
ich ihn wegen Beihilfe zum Menschenraub international zur Verhaftung
ausschreiben. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt!« Ein paar
Sekunden war die Leitung tot, dann hatte der Anwalt seine Sprache wieder
gefunden.
»Monsieur
le Kommissaire! Ich bitte Sie! Ich werde
selbstverständlich alles was in meiner Macht steht veranlassen, um die Behörde
zu unterstützen. Ich bin sicher, wir finden einen Weg.« Die Verbindung war
schlagartig unterbrochen. Patry lächelte sanft in sich hinein. Dann breitete er
ungefähr fünfzig Passfotos vor sich aus, betrachtete die Gesichter intensiv.
Wie Buchhalter oder gutmütige Leihopas lagen die Halunken vor ihm auf dem
Schreibtisch. Er ließ sich einen Kaffee kommen. Mit der Kaffeetasse in der Hand
stellte er sich ans Fenster. Ganz in Gedanken versunken kam ihm Adolf Eichmann
in den Sinn. Der Logistiker des Todes hatte auch den Typus eines ehrenwerten
Beamten repräsentiert. In dem Moment läutete das Telefon. Wortreich meldete
sich Sinuhe und entschuldigte sich für seine Gedächtnisschwäche.
»Ja,
ja. Hören Sie zu, ich benötige Ihre Hilfe. Ich habe hier an die fünfzig
Passbilder. Die müssen Sie sich ansehen und mir sagen, ob einer dieser Männer
ihr Klient war. Ich komme Ihnen entgegen … Sie können sagen, wo Sie die Fotos
ansehen möchten. Ich bringe oder schicke sie an jeden Ort der Welt. Falls Sie
aber noch hier sind, sagen Sie es mir. Sie haben mein Wort, niemand erfährt den
Ort, an dem Sie sich aufhalten.« Party hörte ein paar Sekunden lang nur den
Atem des Anrufers, der vermutlich verzweifelt überlegte, wie er sich aus der
Schlinge ziehen konnte.
»Kommissar,
ich spreche mit meinem Anwalt, dann melde ich mich. Spätestens in einer Stunde.«
»Eine
Stunde«, nachdenklich beendete Patry das Telefonat. Der Kommissar erhob sich
und stellte sich wieder ans Fenster. Der Ausblick auf den See war immer wieder
von Neuem beeindruckend und hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Seine
Nerven hatten diese Erholungspausen in letzter Zeit bitter nötig. Der Kommissar
war mit Leib und Seele Polizist. Dank seiner Frau war er finanziell unabhängig.
Für ihn war es kein bloßer Broterwerb, sondern tatsächlich eine Berufung. Lange
hatte er an das Gute im Menschen geglaubt. Doch nun stellte er an sich selbst
fest, wie rasch er all seine Ansichten nach und nach über Bord werfen musste.
Der Verfall von Moral und guten Sitten nahm in allen Schichten der Bevölkerung
überhand - eine Folge des allgemeinen Wohlstandes?, fragte sich Patry. Er seufzte.
Das Klingeln des Telefons bewahrte ihn davor, sich die Frage nach der Zukunft
der Gesellschaft zu beantworten. Es dauerte nicht einmal eine halbe Stunde und
der Anwalt von Sinuhe meldete sich.
»Kommissar
würden Sie mir die Bilder anvertrauen?« Patry hatte an diesem Prozedere keine
besondere Freude, doch was blieb ihm übrig. Also willigte er ein. Ein Bote
brachte die nummerierten Fotos in die Kanzlei des Juristen. Eine Antwort wurde
ihm innerhalb eines Tages zugesagt.
Am
nächsten Tag wusste der Kommissar, wer Sinuhe die Listen zum Entschlüsseln
gebracht hatte. Ein gewisser Podolsky, Oberst a.D. des MfS - der Einzige, den
Sinuhe auf den Fotos erkannt hatte, den jedoch mit Sicherheit. Sofort ließ der
Kommissar nach Oberst Podolsky fahnden. Doch der Mann war unauffindbar. In
Berlin ebenso wie in Genf. Patry war mit seinen Ermittlungen an einem toten
Punkt angelangt. Keinesfalls hakte er deswegen die Causa Bouvery ab. Er wusste
nur nicht, wie er den Faden wieder aufnehmen konnte. Alle Hypothesen führten letztlich
ins Leere. Wo war das Ende, an dem er hätte anknüpfen können? Er gab die Suche
nach neuen Hinweisen nicht auf. Stundenlang zermarterte er sich den Kopf.
Wien,
Dezember 1993
Eisenstein
schob sich das letzte Vanillekipferl aus den Beständen von Thomas’ Mutter mit einem
Stoßseufzer in seinen immer hungrigen Rachen und stellte nebenher lobend fest:
»Schon
wegen der Vanillekipferl deiner Mutter würde ich das Fest der Geburt Jesu vermissen!
Man müsste diese Frau freien, wenn sie nicht schon vergeben wäre - so eine
begnadete Köchin!« Allein der Gedanke, Eisenstein als Vater zu bekommen,
erweckte zwiespältige Gefühle bei Thomas. Unverhofft befahl Eisensein, »Herr
Szabo! Verdrücken Sie sich bitte ins Parlament! Heute ist Ministerratssitzung,
ein Pflichttermin für einen Mann der Innenpolitik wie Sie!«
Wenn
Eisenstein vom Du ins Sie
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