Milner Donna
jedes Mal, wenn mir Mama Cooper über den Weg lief, fand sie irgendeinen Vorwand, um mir ein Kompliment zu machen, und die Witwe Beckett pflichtete ihr kopfnickend bei. Die meisten Komplimente drehten sich um das andere, was ich sie an jenem Abend hatte sagen hören, nämlich dass ich hochbegabt sei. Hochbegabt. Das war ein Wort, das ich kannte. Es fühlte sich so gut an, dass ich beschloss, das Mitleid zu ignorieren, das ich bei der Weihnachtsfeier aus ihren Stimmen herausgehört hatte.
Der einzige andere Mensch, der mich damals je hochbegabt nannte, war Boyer. Seit ich ein Buch halten konnte, war mein ältester Bruder mein Mentor gewesen. Aber ich war nicht hochbegabt. Ich hatte nur ein gutes Gedächtnis. Ich konnte mir alles merken: Tatsachen, Zahlen, Namen, Wörter und Kinderreime. »Es ist wie eine Fotoaufnahme, Nat«, lehrte mich Boyer. »Und dann kommst du immer wieder darauf zurück, betrachtest das Bild so oft, bis du das erste oder die beiden ersten Wörter siehst, und dann folgen die anderen wie eine Reihe geistiger Dominosteine.«
Doch das war keine Genialität. Es war lediglich die Gehirnakrobatik, die ich von ihm lernte.
Boyer war es, der hochbegabt war; Boyer besaß den nach Wissen lechzenden analytischen Verstand. Und es war Boyer, der es als seine Mission betrachtete, diese Liebe zum Lernen weiterzugeben. Mom erzählte mir, dass Boyer nach seinem ersten Schultag um das Haus herumgerannt sei und verkündet habe, dass er, wenn er groß sei, Lehrer werden würde.
»Lehrer?«, lachte Dad. »Du brauchst kein Lehrer zu werden. Wir sind Farmer.«
»Boyer war sichtlich enttäuscht«, erzählte Mom. »›Kann ich denn nicht beides sein?‹, fragte er. Als dein Vater ihm keine Antwort gab, sagte ich zu ihm: ›Doch, natürlich.‹«
So begann Boyer, jeden Abend seine Bücher von der Schule nach Hause zu bringen und auf den Apfelkisten, die er in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer aufbaute, an Morgan und Carl das Unterrichtgeben zu proben.
Bald darauf, als ich alt genug war, um mich ebenfalls in Boyers behelfsmäßigem Klassenzimmer einzufinden, fingen Morgan und Carl mit der Schule an und verloren das Interesse. Ich verlor es nie.
Glauben alle kleinen Mädchen, dass sie, wenn sie groß sind, ihren älteren Bruder heiraten werden? Ich jedenfalls glaubte es. Bis ich sechs Jahre alt war, nahm ich an, dass es die natürliche Ordnung der Dinge sei, wenn Boyer und ich eines Tages so wie Mom und Dad sein würden. Erst eine Woche bevor ich in die Schule kam, machten Morgan und Carl mit dieser kindlichen Vorstellung Schluss.
Boyer war etliche Jahre Ministrant. Als er dreizehn war, fing er an, mit unserem Pfarrer, Father Mackenzie, lange Gespräche zu führen. Sie trafen sich jede Woche in St. Anthony’s oder bei uns zu Hause.
Jeder in unserer Stadt kannte und liebte Father Mac, Katholiken wie Protestanten. Man konnte ihn oft im Atwood Hotel antreffen, wo er gern mit den Leuten zusammensaß und sich ein Gläschen von Captain Morgan’s Rum genehmigte. Mom sagte, er würde auf dem Barhocker – wo er auch mit volltrunkenen Seelen Geduld hatte – ebenso viele Beichten abnehmen wie im Beichtstuhl. Aber der schlimmste Härtetest für seine Geduld war, wie er selbst gern scherzte, sein Freund und Bridgepartner Dr. Allen Mumford.
Mom zufolge war die Beziehung zwischen den beiden Männern die unglaublichste aller Freundschaften. Dr. Mumford, der Arzt der Stadt und ein bekennender Agnostiker, war ein polternder und rechthaberischer Mann, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hielt. Er stritt mit seinen Bridgepartnern so lange herum, bis auch seine Frau sich weigerte, mit ihm zu spielen. Am Ende brachte nur noch Father Mac genügend Geduld auf, um sein Partner zu sein.
Obwohl beide sogar einige Jahre jünger waren als mein Vater, waren sie in meinen Augen streitsüchtige alte Knacker. »Wenn Sie auf das Reizen auch so viel Aufmerksamkeit verwenden würden wie auf das Beten für meine unsterbliche Seele«, warf Dr. Mumford dem Priester im Laufe ihrer hitzigen Debatten an den Kopf, »dann wären wir am Bridgetisch erfolgreicher.«
»Und wenn Sie sich halb so viele Gedanken über Ihr Spiel machen würden wie über Ihren Unglauben«, pflegte Father Mac zu erwidern, »dann hätten Sie vielleicht meine Gebete gar nicht nötig.«
Sie boten einen seltsamen Anblick, diese beiden, wenn sie im Park oder im Gemeindezentrum über ihrem Schachbrett hockten und zwischen den einzelnen Zügen über Theologie und das
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