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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: River
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das Gefühl, dass er alles über mich wusste und dass es nichts auf der Welt gab, was ihm wichtiger war als ich. Ich bin mir sicher, dass er jedem, der mit ihm zusammen war, das gleiche Gefühl vermittelte.
    Als ich an diesem Abend in seinem Zimmer saß, mit einem Stapel Pennys und einem Wörterbuch auf dem Schreibtisch zwischen uns, streckte er die Arme zu mir herüber und hob meine Hände hoch.
    Sein Blick wurde sanft, als er sie umdrehte. »Was ist passiert, Nat?«, fragte er.
    Die schon schwindenden roten Striemen schmerzten weniger als mein Geständnis, dass ich Bonnie blöd genannt hatte.
    »So ist das mit den Worten«, sagte Boyer, »einmal ausgesprochen, sind sie wie verschüttete Milch, man kann sie unmöglich wieder einsammeln. Worte sind zu mächtig, als dass man sie gedankenlos benutzen sollte. Du hast zwei Chancen gehabt, deinen Worten die Macht zu nehmen, andere zu verletzen. Zuerst, als du sie ausgesprochen hast, und dann, als deine Lehrerin dich aufgefordert hat, sie zu wiederholen. Manchmal ist es weniger wichtig, genau die Wahrheit zu sagen, als auf die Gefühle eines anderen Rücksicht zu nehmen.«
    »Eine Lüge?« Ich schluckte die Tränen hinunter, die aufzusteigen drohten. »Ich hätte Mrs. Hammet eine Lüge auftischen sollen?«
    »Nicht direkt eine Lüge, aber wenn du vielleicht einen Moment nachgedacht hättest, bevor du überhaupt etwas gesagt hast«, meinte er und hielt immer noch meine Hände fest. »Na ja, das und eine kleine Notlüge hätten sowohl dir als auch Bonnie eine Kränkung erspart.«
    Als wollte er den Schmerz wegblasen, sagte er dann: »Danach hättest du zur Buße ja ein paar Ave-Marias aufsagen können.« Er zwinkerte mir zu. »Denk daran: eine kleine Notlüge und ein bisschen Diskretion.«
    Diskretion. Für eine Sechsjährige war das ein Zehnpennywort. Und eine Lektion, die ich erst viel zu spät lernen sollte.

10
     
    D ER B US BRUMMT über den Highway 97 South. Wir fahren vorbei an sanft ansteigenden Feldern, die Bäume sind von Raureif überzogen. Der klare Herbsthimmel ist blau, frisch und makellos. Ich habe immer schon den offenen Himmel der Hochebenen von Cariboo und Chilcotin geliebt, wo es einen ganzen lieben langen Tag dauert, bis die Sonne von Ost nach West wandert. Im Gegensatz zu Atwood.
    Als ich aufwuchs, schenkte ich der Tatsache, dass die Landschaft von den Bergen beherrscht wurde, wenig Beachtung. Ich bemerkte nicht, dass es wenig Himmel gab. Jetzt muss ich mich auf die beklemmende Klaustrophobie gefasst machen, die mich packt, sobald ich mich in den Schatten dieser Hochgebirgshänge begebe.
    Als ich dort lebte, war es ganz natürlich, dass die Sonne frühzeitig hinter den Felsnasen aus Granit und den waldbedeckten Bergen verschwand und ihre Schattendecke hinter sich herzog. Ich machte mir keine Gedanken darüber, dass ich, um den Horizont zu sehen, nach oben blicken musste.
    Die Berge, die drohend über unserer Farm aufragten, waren mir so vertraut wie meine Familie. Ich kannte ihre Form, ihre Lage, ihre Größe und ihre Höhe. Und ich kannte ihre Namen.
    Größtenteils dank Boyer.
    So weit ich zurückdenken kann, saß ich auf seinen Wanderungen durch die Wälder der Umgebung immer auf seinen Schultern.
    »Ich bin die Königin des Berges!«, brüllte ich eines Nachmittags von meinem Hochsitz herunter. Ein schwaches Echo versuchte, von den Hängen widerzuhallen.
    »Na, vielleicht das Prinzesschen«, lachte Boyer.
    Er machte auf einer Berglichtung halt, um zu verschnaufen. Wir setzten uns nebeneinander auf die Wiese und wärmten uns in der Sonne, während wir auf unser Farmhaus und den gewundenen Flickenteppich aus Feldern und Weiden hinunterblickten.
    Boyer deutete auf markante Punkte und brachte mir bei, wie ich mich orientieren konnte, indem ich Robert’s Peak fand, der über unserer Farm aufragte. »Auf der anderen Seite dieses Berges liegen die Vereinigten Staaten von Amerika«, sagte er, und in seiner Stimme klang ein Unterton der Verwunderung. »Stell dir vor, Natalie, ein ganz eigenes Land, und nur ein paar Kilometer entfernt!«
    »Gibt es eine Linie?«, fragte ich.
    »Eine Linie?«
    »Wie auf der Landkarte?«
    »Nein, es ist eine imaginäre Linie, die uns trennt.« Er lächelte.
    »Sind die Leute dort anders?«
    »Na ja, auf jeden Fall gibt es dort wesentlich mehr davon. Aber sie sind ganz genauso. Wir haben Glück, dass wir sie haben. Es ist ungefähr so, wie wenn gleich nebenan ein großer Bruder wohnt.«
    »So einer wie du«, feixte ich.
    »Ja,

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