Mimikry
wußte, was sie am Telefon dann sagen sollte. Meldete man sich krank, wurde einem ja doch nicht geglaubt. Zweimal hatte sie geredet, einmal, als sie Gabriel sagte, daß sie Mittag mache, dann hatte sie noch jemanden gegrüßt. Vor ihr der lange Abend und die Nacht mit den Gedanken.
Im Morgengrauen hatte sie etwas gesehen, von dem sie dachte, daß es eine Bombe war, obwohl sie gar nicht wußte, wie so etwas aussah. Eine Explosion in einem weißen Wagen und die Henkel zuckte und kreischte in ihrer Pfütze Blut. Das war im Halbschlaf gewesen, wenn die Gedanken ohnehin ein wenig wanderten, hierhin, dahin, ganz ohne Ziel.
Manchmal sah sie im Halbschlaf auch Theresas erhobene Hände, die etwas schützen wollten und bewahren, die Reste ihrer Existenz. Martin, der weinte, Julia, die lachte. Julias häßliche Stimme, mit der sie sagte: LÜG DOCH NICHT, Julias Stimme, wenn sie schrie.
Nicht das. Nicht daran denken.
Vorsichtig drückte sie die Drehtür auf, so eine Drehtür war tückisch, wenn man nicht schnell genug ging. Sie sah ihn am Tresen lehnen. Oder an der Rezeption, wie sie das nannten in Hotels, doch eine richtige Rezeption stellte Biggi sich vornehmer vor. Sie hatte nicht gewußt, daß er Portier war, sie hatte sich nur gedacht, daß er hier wohnen oder arbeiten würde.
Er blätterte in einem Heft, hob erst den Kopf, als sie direkt vor ihm stand. Auf seinem Hemd ein kleines Schild mit der Aufschrift T. Czerwinski.
»Ja?« fragte er. Er hatte hellbraune Augen, die ein bißchen wie Bernstein schimmerten; durch das Fernglas hatten sie anders ausgesehen, dunkler. Sie fand sein Haar zu lang für einen Portier, doch anscheinend achtete hier niemand darauf. Er trug auch eine Hose, die nicht richtig zu dem Hemd paßte, schon farblich nicht. Vielleicht wußte sie das erst, seit sie die schönen Sachen hatte, vielleicht war das der Sinn des Ganzen gewesen, die schönen Sachen, die Kostüme, das Kleid und die Hosen. Sie waren noch in dieser Wohnung und sie wollte sie behalten. Zwei Meter entfernt eine Glastür, hinter der man einen Tresen sah, die Bar.
Biggi räusperte sich und sagte: »Ich möchte nur kurz ein Zimmer.« Sie kam sich dämlich vor, als sie hörte, wie es klang.
»Was heißt kurz?« fragte er. Seine Stimme war leise und unfreundlich. Ein Stück vom Schneidezahn fehlte ihm. Er machte keinen Eindruck, vielleicht konnte man es so sagen. Doch er war nicht der Typ, der kroch und gehorchte, das hatte er bewiesen. Möglich, daß er gelacht hatte, als die Henkel seine Ohrfeige so demütig hingenommen hatte, das war ja auch zum Schreien gewesen, wirklich zum Schreien.
»Ich dachte –« Biggi räusperte sich erneut. »Nicht für lange. Eine Nacht oder so.«
»Sie müssen’s mir schon genauer sagen.« Es sah aus, als unterdrücke er ein Gähnen. »Für oder so kann ich Ihnen nix geben. Wollen Sie für eine Nacht? Sie können’s ja verlängern.«
»Ja«, sagte Biggi. »Eine Nacht.«
Er drehte sich weg und tippte etwas in einen Computer. »Einzel, ja?« fragte er, ohne sie anzusehen.
»Ja«, sagte sie. Einzel. Plötzlich erinnerte sie sich, wie er bei der Henkel im Bett lag, an einem Sonntagnachmittag, das Gesicht zwischen ihren Brüsten. Wie er sich dann aufrichtete, um ihr das Haar aus der Stirn zu streichen, das hatte schön ausgesehen, schöner als das, was sie vorher gemacht hatten, sanfter. Biggi legte die Hände auf den Tresen; es war so ein unbestimmtes Gefühl, das sie manchmal hatte, eine Sehnsucht nach Dingen, die sie nicht beim Namen nannte. Auch nach Lachen, das auch, gemeinsam lachen. Mehr brauchte man nicht, mehr war es auch nicht im Leben, also gar nicht so viel.
52
Die Schreibtischlampe warf einen weißen Kreis auf ein schwarzes Männchen. Es hatte einen eckigen Kopf und einen Körper aus zwei Strichen. Dürre Ärmchen streckten sich in die Luft, abgewinkelte Beinchen suchten Halt. Ina Henkel wollte es durchstreichen, doch dann ließ sie es sein. Sie lehnte sich über den Tisch und griff nach Stockers Notizen. Genau wie ihre eigenen. Ein paar Namen, viele Häkchen und Fragezeichen.
»Das ist doch schon einiges«, sagte Pagelsdorf. Er hockte halb auf der Fensterbank, das Jackett auf dem Schoß.
»Das ist Schrott«, sagte Stocker. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und preßte beide Handflächen auf die Ohren. »Nachbarn erzählen so bedeutende Dinge, daß die Frau Jung immer gegrüßt hat. Ihr ehemaliger Chef sagt auch nichts Erhellendes, außer daß er sie wegen einer
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