Mimikry
Sie drehte die Musik leiser.
Man konnte darüber reden, jetzt wieder. Man sagte es und blieb am Leben. Etwas hatte angefangen, ihr das Herz zu zerfressen und alle Gedanken, das mußte sie verjagen. Sie wollte da ankommen, wo man nicht mehr schreien wollte, seine Arbeit tat und nach Hause ging, in die Welt der Lebenden zurück.
Kein Geräusch in der Lenaustraße, nur das Flirren der Stille, wie sie es bei Hilmar gehört hatte. Hinter Hilmars Mülltonne; wie sie da begonnen hatte, ihr Leben zu ändern, hatte sie dasselbe Geräusch gehört, ein leises Summen wie von guten Geistern. Sie stieg aus und drückte die Autotür vorsichtig zu, sah nicht herüber, zum Haus auf der anderen Seite. Morgen wieder.
Auch die Wohnungstür knallte sie nicht zu, mit solchen Dingen konnte man beginnen. Sie streichelte den dösenden Kater, zog die Jacke aus und nahm die Waffe aus dem Holster. Sie schloß sie weg, das einzige, was sie nie vergaß – das war doch das Wort, das ihr nicht eingefallen war.
» Holster « , erzählte sie dem Kater. »Alzheimer grüßt, nicht Futteral. Futteral, gut, gleich kriegst du Futter. Bübchen.« Sie kraulte sein Fell, bis er brummte. »Bist aber zu fett, hast doch schon zwei Näpfe leer, eigentlich darf ich dir nichts mehr geben, hörst du? Bist bißchen fett, bißchen faul, bißchen dumm – bißchen fett, bißchen faul –« Sie konnte nicht aufhören. Wann hatte sie das letztemal albern herumgesungen? Irgendwann im Urlaub wohl, in einer Nacht am Strand, als das Leben so war, wie es sein sollte, mit Rockmusik und Rotwein und Händen auf der Haut.
»Wir ziehen hier weg«, erzählte sie dem Kater. »Suchen uns was Schönes und lassen kein Schwein mehr glotzen, was hältst du davon?« Auf Zehenspitzen lief sie durch die Wohnung, an dem blinkenden Anrufbeantworter vorbei. »Gleich«, murmelte sie. »Erst Jerry, dann Tom, dann Jerry, dann –« Als sie das Schlafzimmerfenster öffnete, sah sie das Licht. Es durfte nicht brennen gegenüber, nicht da, im zweiten Stock, es brannte bei der Jung. Sie hielt die Luft an, sah nur hin, sah eine Gestalt hinter der Scheibe. Sie ging vorbei, drei Herzschläge vergingen, dann war sie wieder zu sehen, stand da mit gesenktem Kopf, bevor sie verschwand.
Die Benz. Das war die Benz, aber warum? Ina Henkel stieß die Luft aus, griff nach ihrer Tasche und rannte aus der Wohnung. Sie raste die Treppen herunter, drückte die Haustür auf, lief über die Straße – wo denn klingeln, bei Jung? Sie hatte den Schlüssel noch. In der Seitentasche, hinter ihrem Ausweis.
Leise die Treppen hoch. Eingerissen das rote Schild über dem Türschloß. Sie hielt zwei Finger über das Schloß und schob den Schlüssel darunter vorbei. Es kratzte auf der Haut, doch es war ohne Geräusch. Erst drinnen machte sie Lärm, als sie die Wohnzimmertür mit dem Fuß aufstieß.
55
Es war etwas passiert. Die Tür zum Bad halb offen. Nicht hineingehen, nein, nicht denken. Alles war normal.
Doch es war schmutzig, überall Dreck, der Boden im Flur voller Schlieren. Jemand war hier gewesen, sie war hier gewesen, oder? Herumgetrampelt mit ihren Nuttenschuhen, alles versaut, alles gestohlen, was wichtig war, die Kleider, ihre Kleider. Biggi blieb stehen. Es waren ihre Sachen und sie wollte sie tragen heute nacht, das sandfarbene Kostüm oder das graue.
Sie sah im Schlafzimmer nach. Sie hatten das Bett zerwühlt. Sie öffnete die Schranktür. Alles herausgezogen und schludrig wieder hineingestopft. Auch das Fernglas war weg, doch das war egal.
Nein, das war nicht egal, denn sie hatte es gekauft und die andere hatte es gestohlen. Sie nahm ihr, was wichtig war, so war es immer. Man tat ihr Dinge an. Und sie wehrte sich nicht, sie ließ es geschehen.
So ein Lärm. Nein, sie hatte keinen Lärm machen wollen. Das war Theresas Kaffeetisch, auf den sie jetzt geschlagen hatte, eine Schramme im Holz. Das wollte sie nicht. Theresa hatte Plätzchen serviert, süßes Zeug. Dieses Geräusch, es hallte nach, ein Poltern, als schlüge man einem auf den Kopf, das war auch so ein Geräusch gewesen, so dunkel, so dumpf, doch sie durfte nicht daran denken und durfte sich nicht fragen, ob sie verrückt wurde, weil sie das Geräusch noch hörte, als sie längst aufgehört hatte, auf den Tisch zu schlagen, es kam vielleicht von woanders her, aus ihrem Kopf oder – Sie fuhr herum. Sah die Henkel. Sie stand in der Tür.
Hingezaubert, oder? Zum Kichern. Ein Traum, ein Trugbild, ein Schaltfehler im Hirn oder – nein, sie
Weitere Kostenlose Bücher