Mimikry
holte, war es ein Schluchzen. Zwei, drei Minuten lang sagte niemand ein Wort. Sie waren fast allein auf der Straße, ein Motorrad und ein schwarzer Fiat fuhren vorbei.
»Ob das im Sarg auch so ist, sieht man da auch so aus?« Sie sah immer noch nach vorn.
Stocker schloß die Augen. »Darüber denke ich nicht nach, das ist völlig egal. Bitte hören Sie auf.«
»Im Sarg ist es vielleicht anders, oder nicht? Es ist doch luftdicht im Sarg, nein, man muß sich verbrennen lassen, unbedingt – verbrennen.«
»Denken Sie nicht darüber nach.«
»So darf man niemanden sehen, niemand sollte so – man muß, muß ein Gesetz machen –« Sie drückte die Fingerspitzen auf die Augen, ihre Schultern zuckten. Nach einer Weile flüsterte sie: »Ich bin nur so hundemüde. Das ist bloß – außerdem ist mir sauschlecht.«
»Ich fahre«, sagte Stocker. »War ein Scheißjob. Das ist so. Da kann man nichts machen. Steigen Sie aus, ich fahre.«
Sie flüsterte: »Scheiße, wenn Sie fahren, schnalle ich mich hinten an. Sie fahren doch bloß S-Bahn.«
»U-Bahn.«
Sie schüttelte den Kopf, gab Gas. »Wie stellen Sie sich das denn vor? Sie fahren mich nach Hause, rufen ein Taxi und fahren zurück. Zwei Straßen vor Ihrer Wohnung, das ist doch bescheuert.«
Stocker klappte das Handschuhfach wieder auf, nahm eine Kassette heraus, sah immer wieder herüber. »Wollen Sie Madonna hören?«
»Ja, ist egal.«
»Die ist ja nicht übel. Die anderen –« Er griff in den Stapel. »Metallica, Radiohead, Smashing Pumpkins, was soll ich davon halten, was soll das sein?«
»Das ist gut.« Sie zog die Nase hoch. »Sind natürlich keine Opernarien.«
Vor ihnen liefen fünf Männer über die Straße, fünf Männer unter einem Schirm, sie winkten. Einer hüpfte, die anderen sangen. Eine schwarzweiße Katze schlich hinterher. Stocker sagte: »Da kommt Abraham.«
»Der heißt jetzt Jerry. Nein, Jerry wartet auf sein Abendessen. Der arme Dicke, der ist so oft allein. Der ist auch bißchen wunderlich, wahrscheinlich hat er bei der Bischof keine Menschenseele außer ihr gesehen.«
Stocker lachte. »Das war nicht übel mit der Katze. Beim Mosbach, meine ich, haben Sie nett gemacht. Ich bin mal auf das Video gespannt.«
»Meinen Sie, der ist da drauf?« Sie nahm ein Tempo, rieb sich die Augen. »Ich möchte den eigentlich nicht sehen.«
»Den Mosbach?«
»Den anderen –« Zischend zog sie die Luft ein.
»Fried«, sagte Stocker.
»Ja.«
»Na ja«, sagte er. »Wird schon etwas anders aussehen.« Er drehte die Musik leiser. »Mosbach soll es ja mal bis zum Teenieschwarm gebracht haben, sagt meine Frau. Ist aber ’ne Weile her. Jetzt sind’s wohl die Hausfrauen.«
»Der wär mir zu schwul.«
»Der ist weiß Gott nicht schwul.«
»Ich hab nicht gesagt, daß er schwul ist, ich hab gesagt, der sieht schwul aus. Tuntig irgendwie.«
»Das haben Sie nicht gesagt.«
»Das hab ich aber gemeint.«
»Da an der Ecke können Sie mich rauslassen.« Er löste den Gurt. »Den Rest gehe ich zu Fuß, brauch noch bißchen Bewegung.«
Sie hakte einen Finger in den Ausschnitt des T-Shirts. »Tun Sie mir einen Gefallen und ziehen Sie morgen was anderes an. Ich meine, wenn Sie morgen in dem Anzug kommen, schreie ich.«
»Sie schreien schon genug. Was haben Sie gegen den Anzug?«
Sie trommelte aufs Steuer. »Sie sind so ein Depp.«
»Ja, ich wünsche auch Gute Nacht.« Er stieg aus, warf die Tür zu. Als sie anfuhr, rief er: »Fahren Sie langsam!«
Sie fuhr schneller, drehte die Musik auf, alle Fenster waren offen, Madonna sang If I could melt your heart. An der Ampel hielt ein Taxi neben ihr, der Fahrer tippte sich gegen die Stirn. Sie sah ihn an, wer zuerst wegguckt, hat verloren, drehte noch weiter auf.
Zu Hause blieb sie im Flur stehen. Aus der Küche flackerte das grüne Licht der Digitaluhr am Herd, 23:18. Gähnend kam der Kater auf sie zu, und sie kniete sich vor ihn hin und faßte ihn an den Ohren, »Jerry, Jerry, Jerry.« Aus halbgeöffneten Augen sah er sie an. Ihre Hände rutschten ab, sie drückte sie auf den Boden und verharrte so, bis der Kater anfing zu mauzen. »Gleich«, flüsterte sie. »Ich kann noch nicht. Kann noch nicht in die Küche.«
Mühsam stand sie auf und nahm einen Müllsack aus dem Schrank im Flur, dann zog sie alles aus, Jeansjacke, Rock, T-Shirt, schob das Zeug hinein, alles, auch die Schuhe, band den Sack fünfmal zu, stellte ihn vor die Wohnungstür und drehte die Dusche auf.
21
Nachts wirkte die Stadt wie eine
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