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Mimikry

Mimikry

Titel: Mimikry Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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streckte sich. »Ich geh noch mal aufs Klo.«
    Sie legte sich zurück und sah zur Decke, achtete auf alle Geräusche. Die Wasserspülung, dann seine Schritte im Flur und seine Stimme, wie er mit dem Kater sprach, dann das Quietschen seiner Schuhe auf dem Boden, als er sich aufs Bett setzte, um sie zuzubinden. Sie sah ihm zu, wie er sich mit zehn Fingern kämmte, seine Jacke anzog und seinen Rucksack nahm.
    »Paß auf«, sagte sie. »Ist dummes Volk unterwegs. Soll ich dich fahren?«
    »Soweit kommt das. Nee, du bist müde. Nachher knallste wo gegen.«
    Sie richtete sich auf. »Ich kann dich aber fahren –«
    »Nix, nee.«
    »Ich will dich nie irgendwo –« Sie schüttelte den Kopf. »Das geht so schnell, weißt du?«
    »Hey«, sagte er. »Ich muß doch bloß zur U-Bahn, ich nehm die U5.«
    »Klar, ’ne andere fährt ja auch nicht.«
    »Vielleicht fahr ich schwarz, das ist aber auch alles.« Er lächelte. »Du beschützt mich doch. Ich hab Polizeischutz.«
    »Mein Geist, oder was?«
    »Sicher.« Er küßte sie. »Dein Schutzengel hat einen Zwillingsbruder. Der ist bei mir.«
    »Oder ’ne Schwester.«
    »Oder so.« Er lachte, und sie wollte ihn nicht loslassen.
    Unten drehte er sich zum Fenster und hampelte herum. Nein, er malte. Mit den Armen rudernd, malte er ein Herz in die Luft, und sie preßte die Hand gegen die Fensterscheibe, bis sie ihn nicht mehr sah. Einen Moment noch hielt sie die Schnur der Jalousie fest; wie eine Lichterkette blinkten die Fenster auf der anderen Seite, blaue Lichter, Fernsehlichter, im ersten und im dritten Stock. Dazwischen, im zweiten, war es dunkel. Sie ließ die Schnur los und nahm den Kater auf den Arm, der sofort zu strampeln begann, er konnte zickig sein. Eine Weile dauerte es, bevor er sich entspannte.
    »Die hat dich versaut«, sagte sie. »Du bist verklemmt. War sie auch, ja? Sag schon.«
    Aber er guckte, wie die Welt auf ihrem Arm aussah. Nicht so schön; er schloß die Augen.
    Und jetzt? Vielleicht noch Musik hören, das verkürzte die Nacht und verjagte das Ticken und den Gestank und alle Gespenster.

37
    Bis sie die Akten schließen konnten, waren die Toten lebendig. Man wühlte sich durch das Leben der Toten und träumte ihre Träume, wenn man sie fand. Bischofs Tagebuch, hundert Seiten Gabriel, Bischofs Aktenordner voller Stars. Fried zwischen den Wohntürmen, Bastelzeug bei ihm zu Hause, im PC eine Adreßdatenbank ohne Adressen. Bischof und Fried ein einziges Mal für alle sichtbar, bevor sie der Welt wieder abhanden kamen. Das war alles, was sie hatten, ein Video und ein paar klägliche Aussagen, bedeutungsloses Zeug.
    Der Pförtner lachte, als Ina Henkel zum dritten Mal an ihm vorüberrannte. »Viel los? Ihr hüpft ja dauernd raus und rein.«
    Ja. Schon. Raus und rein, weil man sich verzettelte. Alles annehmen, alles verwerfen, und wußte man nicht weiter, fing man von vorne wieder an. Alles sichten, das ganze Zeug, von dem sie nicht wußten, ob es wichtig war.
    Das ganze Geheul. Sie packte die roten Akten zu den roten und die blauen zu den blauen, die Frauen rot, die Männer blau, die Klagen immer gleich. Stundenlang hatte sie alles durchgelesen, Briefe an Mosbach, Faxe, Bewerbungen, Empfehlungsschreiben mit der Bitte um Teilnahme.
    Überall Heulsusen, überall Opfer, »– möchte ich an einer Sendung teilnehmen, wo es darum geht, wie man als alleinerziehender Vater von der geschiedenen Frau bloß abgezockt wird. «
    » als Kind wahrscheinlich mißbraucht worden, muß das erzählen – «
    » Haben Sie Interesse zu erfahren, wie man als ein Mobbing-Opfer lebt? «
    Das meiste war nutzlos. Bischof hatte ähnliches Zeug geschrieben, »– an der Sendung Wir alle brauchen Zärtlichkeit, für die Sie Teilnehmer suchen, würde ich sehr gerne teilnehmen. «
    Wahrscheinlich hätte Pagelsdorf ihr das zurückgegeben, noch einmal schreiben.
    Und dann ein anderes Bild, Bischof über ihr Tagebuch gebeugt, ihr Traumbuch vielleicht, » Gabriel ist der einzige Mensch, der mir zuhört. «
    Fried hatte gar nicht geschrieben, er war einem Aufruf gefolgt, Rufen Sie an! » Wenn Sie Angst vor dem Leben haben, wenn Ihnen alles zur Qual wird, rufen Sie uns an. «Fried hatte angerufen. Sie blätterte zurück. Ein Micha Helm aus Mosbachs Redaktion hatte das Vorgespräch geführt, Vermerk: »Rhetorik leidlich. Tendenz zum Stammeln.« Sie blätterte vorwärts. Micha Helm hatte nicht das Vorgespräch mit Bischof geführt. Nichts paßte. Nirgends ein Anfang.
    Wie sahen Querulanten aus, was

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