Mina_Hepsen_03-Unsterblich wie die Liebe
Mikhail empfand unwillkürlich
Mitleid mit ihr. Es war offensichtlich, dass sie von starken Schuldgefühlen
gepeinigt wurde. Hier stand eine arme Seele vor ihm, die verzweifelt auf
Vergebung hoffte.
»Hallo«, entgegnete
Nell steif, dann wandte sie sich ab und ging in den hinteren Teil des Ladens,
wo Adam stand und alles beobachtete. Wie auf Kommando kam Bewegung in die
versammelten Damen, und man machte Anstalten zu gehen. Nur die Rothaarige, Meg,
blieb noch einen Moment und trat enger an Mikhail heran.
»Wir haben nicht oft
einen so schönen Mann in unserer Mitte«, gurrte sie, »Storm scheint Glück zu
haben, oder?«
Mikhail begriff sofort, was
sie damit sagen wollte. Hatte Nell auch Glück genug, einen treuen Ehemann ergattert zu haben? Unter anderen
Umständen hätte Mikhail ihr Angebot vielleicht angenommen. Es war schon eine
Weile her,
seit er zuletzt bei einer Frau gelegen hatte, und Meg war ausgesprochen
hübsch: eine üppige, kurvenreiche Fi gur und volle, sinnliche Lippen. Aber er war
aus einem ganz bestimmten Grund in
dieses Dorf gekommen. Er war hier, um die Kinder vor Schaden zu
bewahren, um dafür zu sorgen, dass
ihnen in den vier Wochen, die sie hier zu bleiben planten, nichts passierte. Im
Übrigen reizte ihn Meg gar nicht
sonderlich, wie er sich plötzlich ein gestand.
Seine Aufmerksamkeit
wurde durch eine Bewegung abgelenkt. Nell beugte sich über den Tresen und
teilte Adam ihre Wünsche mit. Ja, das war die Frau, die ihn reizte. Sehr sogar.
»Aha, so ist das
also«, sagte Meg bedauernd. »Weiß gar nicht, wieso ich überhaupt gefragt habe.
Alle Männer sind hinter Nell her. Ich weiß nicht, wie sie das macht. Ich
wünschte, sie könnte es mir sagen.«
Mikhail runzelte die
Stirn. Alle Männer? Wer denn noch? Das mit George war schon mehr als genug,
fand er.
Meg berührte lachend
seinen Arm. »Na, na, kein Grund zur Eifersucht. Storm wollte keinen von ihnen.
Außer George, natürlich.«
»Natürlich«, knurrte
Mikhail ergrimmt.
Meg lachte erneut und
winkte ihm zum Abschied kokett zu. »Wir sehen uns, Michael. Und sagen Sie mir
Bescheid, falls Sie Ihre Meinung ändern sollten.«
Als sie den Laden
endlich verlassen hatten, atmete Nell erleichtert auf. Mikhail schien die
dauernde Aufmerksamkeit nicht viel auszumachen, aber sie selbst war mit ihrer
Geduld am Ende.
»Na, war das nicht
ein Glück, das mit der Kleidung?«, lächelte Mikhail und hielt das in Packpapier
gewickelte Paket hoch, das er trug. »Und war es nicht nett von Mary, uns die
Babykleidung zu leihen, die sie aufgehoben hat?«
Das Herrenhemd und
die Hose entsprachen zwar bei weitem nicht der Qualität, die er sonst gewöhnt
war, aber für einen Dorfschullehrer würde es reichen, dachte Nell. Was Mary
Smith betraf, so schien sie tatsächlich ganz nett zu sein. Kein Vergleich
jedenfalls mit dem alten Vikar und seiner Frau, dachte sie grimmig.
»Ja, es hat wunderbar
geklappt. Und Adam sagte, er könnte mir in ein, zwei Tagen ein neues Kleid
besorgen. Bis dahin kann ich das hier tragen.«
Mikhail blieb stehen
und schaute sich auf dem Dorfplatz um. Nell fragte sich, was er wohl von dem
Ort hielt, in dem sie aufgewachsen war. Im Sonnenschein wirkte New Hampton
geradezu idyllisch. Die Hauptstraße war eine kurze Straße, die von der Schule
am einen Ende zur Kirche am anderen führte, und dazwischen befanden sich die
Metzgerei, die Gastwirtschaft, die Bank, der Einkaufsladen und ein paar Wohnhäuser.
Dahinter wand sich die Straße zwischen einzelnen Farmen und Cottages hindurch
und verschwand zwischen reizvollen Hügeln.
Die größte dieser
Farmen war die Williamsons Farm. Dort kannte sie jeden Stein, jeden Baum, jeden
Strauch. George hatte ihr jeden Zentimeter seines Landes gezeigt.
Als hätten ihre
Gedanken ihn heraufbeschworen, trat er in genau diesem Moment aus einem der
Häuser an der Dorfstraße an seiner Seite ein blondes Mädchen, das ihr irgendwie
bekannt vorkam.
»Ich möchte jetzt
nach Hause«, sagte Nell sofort, den Blick wie hypnotisiert auf das Pärchen
geheftet, das sie noch nicht bemerkt hatte.
Mikhail
folgte ihrem Blick, rührte sich aber nicht. »George?«
Nell konnte bloß
nicken, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das war der Mann, den sie einst
geliebt hatte. Er sah in ihren Augen immer noch wundervoll aus, groß,
breitschultrig, mit dunklen Haaren, die in der Sonne glänzten. Sie konnte sein
Gesicht nicht sehen, aber seine Züge waren unauslöschlich in ihr Gedächtnis
eingebrannt: große, warme braune
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