Mindfuck: Warum wir uns selbst sabotieren und was wir dagegen tun können (German Edition)
sich schweigend unter, als erneut der Grausamkeit wechselnder Herrscher und Truppen ausgesetzt zu sein.
Auch die Aufklärung, die Idee, dass ein Mensch sich durch die Kraft seiner Vernunft von Aberglaube und ungerechter Herrschaft befreien kann, erlebte in Deutschland nur eine kurze Blüte. Während sie die französische und angloamerikanische Kultur nachhaltig prägte, war sie im deutschsprachigen Raum nur eine kurze Phase. Sie brachte zwar einzelne kluge Köpfe hervor, konnte aber leider das Abgleiten in einen unaufgeklärten Nationalismus nicht verhindern. So wurden die Folgen einer modernen und aufgeklärten Denkweise in Deutschland nur technisch übernommen, geistig dagegen nur wenig umgesetzt.
Welches Leid Deutschland im 20. Jahrhundert erlebte und in die Welt getragen hat, wissen alle, die heute in Deutschland aufgewachsen sind. Jeder weiß aus der Überlieferung der eigenen Familiengeschichte davon zu erzählen. Es sind immer wieder die Themen Hunger, Angst, Krieg, Vertreibung, Unsicherheit. Und für die Familien von Millionen Juden und anderer Verfolgter, die zusätzlich zu den Wirren des Krieges der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus ausgeliefert waren, waren das Leid und das Trauma unermesslich. Dazu kommen die Opfer der stalinistischen und sozialistischen Diktaturen in Europa. Die Nobelpreisträgerin Herta Müller, die den Psychoterror der Geheimpolizei in Rumänien, der Securitate, überlebte, beschreibt in ihren Werken eindrucksvoll, wie täglicher Terror einen Menschen geistig zermürbt, wie die grausamen Mechanismen der Unterwerfung eines Individuums funktionieren. Nicht jeder wurde persönlich ein Opfer staatlicher oder ideologischer Gewalt. Was aber wohl alle kannten, war die häusliche und schulische Gewalt. Und den Preis, den ganze Generationen dafür zahlten, sich selbst zu verleugnen und innerlich wie äußerlich zu funktionieren, kann wohl niemand ermessen.
»Richtiges« Denken in der alten Welt
Was also geht in Menschen vor, die in einer solchen Kultur leben, die von Befehl und Gehorsam, von Verlust und Tod geprägt ist?
Das wichtigste Gut unserer Vorfahren war Sicherheit und Kontrolle. Wiederkehrenden Gefahren und Nöten ausgesetzt, musste sich ihr Denken darauf konzentrieren, wie sie möglichst sicher sein konnten. Es war also wichtig, innerhalb der streng gesetzten gesellschaftlichen Grenzen Kontrolle zuerst über sich selbst und dann über andere zu gewinnen.
Macht und Herrschaft im alten Sinne beruht genau auf dieser Kontrolle. Totalitäre Systeme haben es zur Meisterschaft darin gebracht, Sicherheit und Kontrolle zu zwei Seiten einer Medaille zu machen. Sicherheit durfte nur erwarten, wer sich kontrollieren ließ. Die Macht der Herrschenden war nur durch möglichst weitgehende Kontrolle möglich. Der größte Feind einer hierarchischen Gesellschaft aber ist das Individuum mit einem freien Willen. Die offen und verdeckt ausgesprochene und an zahlreichen sichtbaren Beispielen demonstrierte Botschaft an jeden Einzelnen war deutlich:
Wenn du nicht machst, was wir wollen, bist du nicht mehr sicher. Wenn du dich nicht kontrollieren lässt, bist du nicht mehr sicher.
Auch wenn die Bundesrepublik nach 1945 eine Demokratie wurde, herrschte in der Alltagskultur der meisten Menschen eine andere, enge Welt. Noch in meinem Poesiealbum aus dem Jahr 1979 fand ich den Spruch: »Um sich frei zu fühlen, gibt es ein einfaches Mittel: nicht an der Leine zerren.«
In einer autoritären Welt gibt es keine Erwachsenen
Erwachsen zu sein hieß in der Welt unserer Vorfahren, seinen sozialen Stand anzuerkennen, sich entsprechend äußeren Erwartungen zu »benehmen« und seinen Pflichten nachzukommen. Künstler, Schriftsteller und politisch engagierte Menschen begehrten häufig dagegen auf. Doch sie waren in der Minderheit und stets gefährdet, wegen ihres Engagements ausgegrenzt oder verfolgt zu werden.
Sich als Erwachsene selbstbewusst und auf Augenhöhe zu begegnen, war in früheren Generationen nur in den Grenzen des eigenen sozialen Standes möglich. Nur wer das gleiche Geschlecht, den gleichen gesellschaftlichen Rang und in etwa das gleiche Alter hatte, konnte von Angesicht zu Angesicht ohne Scheu mit dem anderen sprechen. In den totalitären Systemen, also unter Hitler und Stalin, war selbst das ein Wagnis.
Wenn ich heute zur Arbeit gehe, kann ich jeden Tag die Spuren dieser Zeit finden. In dem Altbaukomplex, in dem sich mein Berliner Büro befindet, kann man am
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