Mindhunter - Tödliche Gabe (German Edition)
behutsam ihre Nervosität linderte oder ob er sich ungebeten breitmachte und ihre Gedanken und Erinnerungen erforschte. Zudem würde es ihr helfen, darüber zu sprechen. So würde sie das Gefühl haben, zumindest ein bisschen zur Rettung ihrer Schwester beizutragen.
»Die letzte Person, die Nika gesehen hat«, sagte Anna zu ihm, »ist, soweit ich bisher weiß, ihre Englisch-Lehrerin, Erika Hodgeman. Ich habe mit ihr telefoniert. Nika hatte bei ihr die letzte Stunde. Nichts erschien ungewöhnlich, sie war nicht nervös, sie hatte ihre Hausaufgaben abgegeben und bei einem Pop-Quiz super abgeschnitten. Ich habe Ms Hodgeman gefragt, ob sie von neuen Freundschaften weiß, die Nika kürzlich geschlossen hat, und …« Anna schüttelte den Kopf. »Sie hat gesagt, sie wüsste es nicht genau, aber sie meinte, Nika wäre allein in den Unterricht gekommen und allein wieder gegangen. Wie immer.«
»Sie hat also die Schule verlassen«, unterbrach Bach ihren Anfall von Traurigkeit darüber, dass ihre kleine Schwester immer noch Probleme hatte, sich einzugewöhnen. »Wann war das?«
»Um 14:27 Uhr«, sagte sie und lächelte auf seinen fragenden Blick hin matt. »Da hat sie mir eine SMS geschickt. Wissen Sie, normalerweise hole ich sie ab – es bedeutet mir viel, nach der Schule mit ihr nach Hause zu gehen –, wir treffen uns immer an der Ecke. Aber ich hatte morgens einen Anruf bekommen, dass ich ein Vorstellungsgespräch habe. Also habe ich Nika eine SMS geschickt und ihr gesagt, wo ich hinfahre. Nach der Schule, um 14:27 Uhr, hat sie mir zurückgeschrieben und viel Glück gewünscht.«
»Wo war das Vorstellungsgespräch?«, fragte Bach.
»In der Innenstadt«, sagte Anna und runzelte leicht die Stirn. Irgendwas störte sie daran – an dem Vorstellungsgespräch.
Also hakte er nach. »Wofür war es?«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte sie.
»Wäre möglich.«
Sie seufzte, dann sagte sie: »Es ging um eine Stelle als Sekretärin bei Montgomery & Lowden, einer Anwaltskanzlei, die sich auf Insolvenzen spezialisiert hat. Sie ist in der Nähe vom Government Center. Beim Reingehen wusste ich schon, dass es Zeitverschwendung ist. Sie suchten jemand Älteres. Es gab auch Verwirrung wegen meines Termins. Ich stand nicht auf der Liste, und sie hatten nicht mal meinen Lebenslauf in ihren Akten. Also war es irgendwie … peinlich.«
»Und doch hat irgendjemand Sie eingeladen«, bemerkte er.
Sie sah ihn wieder an, und er konnte nicht nur sehen, sondern auch spüren, wie es ihr dämmerte. Und als sie sich schließlich abwandte und ihren kleinen Rucksack öffnete, wusste er, dass sie ihr Handy suchte.
Er beobachtete sie, ein Auge auf die Straße gerichtet.
Sie war reizend, mit einem Wirrwarr aus dunklen Locken, die ihren Rücken herabfielen, und dunkelbraunen Augen, die all ihre Gefühle verraten hätten, selbst wenn er sich nicht in ihrem Kopf eingenistet hätte. Ihr Gesicht war ziemlich hübsch, sie hatte wundervolle, mokkafarbene Haut, einen ebenmäßigen Teint, aber das alles war nicht besonders aufsehenerregend … solange sie nicht lächelte.
Dann allerdings …
Er versuchte seine Gedanken zu ordnen, doch es gelang ihm nicht recht, sich ihre Wirkung zu erklären. Ihr Mund war nichts weiter als ein Mund, vielleicht ein kleines bisschen voller als die meisten, mit Lippen, die ihn ein bisschen zu sehr über die simplen Freuden eines Kusses nachdenken ließen, so sehr, dass er den Blick abwenden und sich wieder auf die Straße konzentrieren musste.
Was er fühlte, war ungewohnt. Ungewohnt – und unwillkommen.
Bach hatte sich immer glücklich geschätzt. Er schätzte schöne Frauen. Er genoss ihre Gesellschaft, die Unterhaltung mit ihnen, ihre Kameradschaft. Aber von sexueller Anziehung hatte er sich nie ablenken oder irritieren lassen. Diesen Teil von sich hatte er erfolgreich stillgelegt. Selbst wenn er doch einmal Verlangen tief in seinem Inneren aufglimmen spürte, hatte er sich immer rasch wieder unter Kontrolle.
Dadurch war sein Leben wesentlich unkomplizierter.
Damals im Kloster hatte es einige Groß-Thans gegeben, die Probleme mit dem Zölibat hatten. Und, wie Bach heute Abend entdeckt hatte, haderte Stephen Diaz offensichtlich immer noch mit ihrer mönchsartigen Lebensart.
Bach war es nie so gegangen. Er erklärte sich das selbst damit, dass er es schon in jungen Jahren geschafft hatte, sexuelle Anziehung komplett und unwiderruflich an die Vorstellung romantischer Liebe zu knüpfen. Das war keine Absicht gewesen
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