Minerva - sTdH 1
etwas
daran ist.« Und so wurstelte er sich weiter durch seine Predigt. Er verglich
die Dorfbewohner mit der Jagdmeute und ermahnte sie dringend, bereit zu sein,
wenn das letzte große Horn blies.
Aus den
Reihen der weniger gebildeten Kirchgänger hörte man zustimmendes Gemurmel. Das
konnten sie besser verstehen als Minervas hochgestochene Ergüsse.
Als der
Gottesdienst vorbei war, ließ Annabelle ihre Schützlinge vor ihr aus der Kirche
gehen. Ihre Cousinen und deren Eltern, Sir Edwin und Lady Armitage, standen
zwischen den schiefen Grabsteinen vor der Kirche. Guy Wentwater kam mit Lady
Wentwater am Arm aus der Kirche. Er verbeugte sich kurz vor Annabelle und
gesellte sich dann zu Josephine und Emily.
»Ich frage
mich, wie er es wagen kann, sich in der Kirche sehen zu lassen«, zischte
Deirdre. Annabelle flüsterte: »Wirst du wohl still sein. Er treibt keinen
Handel mehr!«
Sie
tröstete sich mit dem Gedanken, daß Guy Wentwater nicht zu ihr hergekommen war,
weil er wußte, daß ihre Familie sie zurechtweisen würde. Annabelle fand Guy wieder
einmal sehr anziehend. Ihr war nicht bewußt, daß sie so sehr mit Emily und
Josephine rivalisierte, daß dieser Konkurrenzdruck jeden Mann attraktiv gemacht
hätte.
Annabelle
bummelte hinter ihrer Familie her und fühlte sich gedemütigt und bedrückt.
Es war
nicht mehr so frisch wie am Morgen, und ein leichter Dunstschleier bedeckte die
Sonne.
»Pssst!«
Annabelle drehte
sich schnell um und sah das freche Gesicht eines der Dorfjungen durch die
Blätter der Hecke schimmern.
»Was ist
los, Jem?«
Der Junge
reichte ihr schweigend einen zerknitterten Zettel.
Annabelle
blickte verstohlen die schmale Straße hinauf und hinunter. Die Familie lief ihr
weit voraus.
Schnell
faltete sie den Zettel auseinander. »Liebe A.«, las sie. »Vor deiner Familie
kann ich nicht mit dir sprechen. Bitte komm zum Wäldchen an der Ecke des
kleinen Ackers. G.«
Einen
Augenblick lang schwang Annabelles Herz jubelnd in die Höhe wie die Lerche zum
Himmel, doch dann fiel es zu Boden. Wenn die Familie es guthieß, konnte man
sich ruhig von einem jungen Mann den Hof machen lassen. Aber ihn heimlich
treffen, war unrecht. Sie wünschte, Minerva wäre daheim. Minerva würde sie
nicht gehen lassen und ihr damit die Entscheidung abnehmen. Aber es war
Sonntag, und Minerva war in London wahrscheinlich gerade in der Kirche ...
Die arme Minerva fand ihren ersten
Kirchenbesuch in London sehr eigenartig. Die ganze Sache hatte eher den Charakter
eines gesellschaftlichen Ereignisses als den eines Gottesdienstes. Sie und
Lady Godolphin hatten Glück, da sie nur den Platz zu Fuß überqueren mußten. So
mußten sie nicht warten, bis sich die Kutscher im Gedränge aufgereiht hatten.
Die modische Aufmachung der Damen, der Gesang und die laute Orgelmusik waren
schon befremdend genug. In der Luft schwang eine freudige Erregung, weil die
jungen Leute ständig über den Rand ihres Gebetbuchs hinweg einander Blicke
zuwarfen. Einige ältere Leute schnarchten laut. Das alles zusammen machte den
Gottesdienst wirklich sehr seltsam.
Minervas
sieben Freier waren auch da und bemerkenswert unauffällig gekleidet.
Offensichtlich erregten sie bei ihren Bekannten Erstaunen, weil sie so
hingebungsvoll sangen und dem Gottesdienst so feierlich lauschten. Sie waren
zu dem Entschluß gekommen, daß Minerva doch nicht die Gesellschaft auf den Arm
genommen hatte, sondern wirklich so sittenstreng war, wie sie zunächst gedacht
hatten.
Nach dem
Gottesdienst umstanden sie Minerva vor der Kirche, was ihr viele neidische
Blicke von anderen Damen einbrachte, aber sie selbst nur verlegen machte.
Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte auch nicht einen von ihnen anziehend
finden, nicht einmal den glutäugigen Mr. Fresne.
Und ihre
Situation wurde auch nicht angenehmer dadurch, daß Lady Godolphin sie alle zu
Wein und Gebäck einlud. Aber Minerva folgte Lord Sylvesters Rat und flirtete,
so gut sie konnte. Denn irgendwie mußte sie einen Mann kriegen. Ihre Familie
verlangte es von ihr. Und das Schulgeld für die Jungen mußte bezahlt werden.
Drei
Partner vom letzten Abend machten ebenfalls ihre Aufwartung, um ihr Komplimente
zu machen. Aber sie wurden von den sieben aus dem Feld geschlagen, die sich
dermaßen als Moralapostel aufspielten, daß Minerva von neuem um ihren Ruf in
der Gesellschaft bangen mußte.
Endlich
gingen sie. Minerva war in gereizter und überempfindlicher Stimmung. Um sich
zu beruhigen, las sie Lady Godolphin aus
Weitere Kostenlose Bücher