Mingus
und blickt sehnsüchtig auf die kleine weiße Figur der Großen Mutter. Die aber gibt kein Zeichen der Zustimmung.
»Wir sind weder dazu bereit noch willens«, sagt Sophie. »Viel zu wenige. Viel zu viele Alte und Schwache.«
»Außerdem ist die Große Mutter gegen jede Art von Gewalt«, sagt die halb blinde Dada, die immer den Altar putzt.
Gemurmel erhebt sich unter den jungen Kriegerinnen, und Tulip steht auf, um etwas zu sagen, aber Neila kommt ihr zuvor und stimmt das Abendgebet an. Ein schräger Sonnenstrahl dringt durchs Seitenfenster und färbt das Köpfchen der Großen Mutter für Augenblicke blutrot.
»Sehr ihr?«, schreit Sophie und wirft sich auf den Boden.
»Auf den Boden mit euch!« Das ist Neilas Stimme.
Daisy und ich liegen schon zwischen den welken Blumen, und wir lachen mit vorgehaltener Hand.
AGLAIA
Ich rufe sie zusammen. Es dauert eine Weile, bis alle kommen und hier in meiner Halle am Tisch sitzen, unter dem hohen Holzgewölbe, über dem der Wind heult. Natürlich habe ich nur die Leute des Rates gebeten. Der Rest des Dorfes wird auf den Feldern und in den Ställen gebraucht.
Becky kommt als Letzte. Das kleine Mädchen an der Hand ihrer großen Schwester, Elsa. Die ist mit Balthasar schon dabei, Tee zu machen. Luis und Baro, verliebt wie immer. Frieder und Zoe haben Kuchen mitgebracht. Die drei Männer aus dem Aristohaus, Hector, Telemach und Nono, in ihren selbst bestickten Tuniken. Und natürlich die beiden alten Frauen, die ich noch heute immer verwechsle. Mathilde und Irina. Unsere Kräuterheilerinnen. Sie sind wie immer als Erste gekommen. Sie wohnen in der Nachbarschaft. Alle sind da. Die Dorfleute, meldet Frieder, kümmern sich um die Ziegen, andere sind am Fischteich. Ich weiß gerne, wo genau gearbeitet wird. Wir haben hier keine Zeit für Müßiggang.
Alan sitzt am Tisch neben mir. Er sieht nach vier Wochen und nach all unseren Bemühungen recht gut aus, hat etwas zugenommen, trägt einen braunen Wollumhang und lächelt wohlwollend. Immer noch ein wenig der Hohepriester, obwohl er, wie er sagt, nichts mehr auf die Religion der Amas gibt.
»Das Tier ist immer noch krank«, sage ich und schaue streng in die Runde.
»Er ist kein Tier«, ruft Alan. »Er ist der zukünftige bessere Mensch. Der Geomessias.« So viel zu seiner Abkehr vom Glauben. Ich tätschle seine Hand. »Schon gut, Onkelchen«, sage ich, aber er zieht seine Hand weg.
Mathilde und Irina nicken lächelnd.
»Besser, er wäre in unserer Hütte, Aglaia, wir könnten Tag und Nacht …«
»Kümmert euch um die kranken Kinder der Ziegenhirten.« Meine Stimme ist viel zu harsch. Ich räuspere mich. »Er packt es schon. Er ist ja kein Mensch.«
Gemurmel. Blicke. Das macht mich zornig.
»Ich finde deine Haltung ihm gegenüber feindselig, Aglaia.« Das ist Becky, die Gayanerin kann sie immer noch nicht ganz ablegen. »Er gehört jetzt zu uns, und wir sollten ihn alle studieren dürfen, etwas von ihm lernen, und vor allen Dingen sollten wir ihn liebevoll in unsere Gemeinschaft aufnehmen.«
Die Aristos flüstern, lachen und klopfen beifällig auf den Tisch.
»Aglaia, willst du den Kerl ganz für dich alleine haben?«, sagt Hector.
»Ich pflege ihn«, sage ich, so ruhig ich kann. »Ich trage die Verantwortung hier.«
Alle schweigen und schauen mich an. Ich weiß, was sie denken: Jetzt kehrt sie wieder die Chefin heraus.
Balthasar schaut in die Runde und sagt: »Ich glaube, ich spreche für uns alle, wenn ich sage: Wir wollen ihn besuchen, nach ihm sehen, jetzt sofort. Was meint ihr?«
»Na gut«, sage ich gelassen, »nur zu. Ihr wisst ja, wo er ist.«
Alle fangen an aufzustehen. Mathilde winkt mit dem Busch Goldrute, den sie mitgebracht hat.
»Wollte sowieso … nachher …«, sagt sie, und Irina fuchtelt beifällig mit den Armen.
»Nur zu!«, sage ich und erhebe mich ohne Eile. »Geht hinauf !«
Er schläft im Kerzenlicht, auf dem Rücken liegend, die Augen wie immer nur halb geschlossen, die Pfoten hinter dem Kopf unter der kurzen nassen Mähne verschränkt. Er schwitzt. Immerzu schwitzt er. Er liegt auf dem kleinen Thermoschlafsack, den er mitgebracht hat. Er will nicht in das Bett. Er frisst und säuft auch nur aus dem schön bemalten Napf, den er dabeihatte. Der Hund hat ihm den gebracht. Der Hund liegt neben ihm. Ich hab ihn ausgeklickt. Eine herrliche kleine Maschine. Wir werden ihn auseinandernehmen und studieren, aber noch wage ich das nicht. Der Kranke liegt oft lange wach und schaut zu ihm hin. Mehr
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