Mira und das Buch der Drachen (German Edition)
schwarze Nacht, in der es immer weiterschneite. Mira erwachte jeden Morgen vom Kratzen der Schneeschaufeln auf der Straße.
Die Welt war weiß, weiß und wieder weiß. Schwarze vermummte Gestalten hasteten über die Straßen, um schnell in dem nächsten Geschäft, der nächsten Kneipe oder in den U-Bahn-Schächten zu verschwinden.
Und Mira fror. Sie fror überall – auch zu Hause, wo die Kälte verschlungene Schneeblumen auf die Fenster zeichnete.
Die Tage seit dem Sommer waren für Mira dahingegangen wie immer. Sie kam in eine höhere Klasse, machte Hausaufgaben und schrieb Schularbeiten, ärgerte sich über die Lehrer und hasste den Sportunterricht.
Und doch war so vieles anders. Die Zeit verging langsamer und Mira staunte über sich selbst. Hatte sie sich nicht jedes Jahr auf Weihnachten gefreut? Die Kugeln, Krippen und Sterne bewundert? Nun sah sie plötzlich Dinge, die ihr in den Jahren zuvor nie aufgefallen waren.
Bei den beiden pausbäckigen Engeln am Schuleingang war der goldene Lack abgeblättert. Die bunte Lichterkette im Tannenbaum des Nachbarhauses wirkte mit einem Mal schrill. Und waren die Sterne in den Schaufenstern schon immer so verstaubt gewesen? Und wieso hatte sie früher nie bemerkt, wie billig die Plastikkugeln im Café an der Ecke aussahen?
Und jetzt waren da auch noch diese beunruhigenden Augen. Manchmal war ihr so, als ob jemand hinter ihr kicherte. Dann raschelte es und Mira meinte eine kleine Maus zu sehen. Einmal – es war auf dem Schulweg – hätte sie schwören können, dass ein Papagei sie anstarrte.
Mira versuchte das Gefühl, verfolgt zu werden, abzustreifen wie den Schnee, den sie von ihrem Mantel putzte. Sicher bildete sie sich das nur ein. Und so erwähnte sie dieses Gefühl auch niemandem gegenüber. Sie erzählte weder ihrer Mutter noch ihrer Freundin Ina davon, die untröstlich darüber war, dass ihr geliebtes Meerschweinchen Karlchen eines Morgens scheinbar spurlos aus dem Käfig verschwunden war. Mira versuchte sie zu trösten, so gut es ging, aber wie sollte sie ihr sagen, dass hinter Karlchen ein verwandelter Zauberer namens Eberhard Schacht steckte?
Das Verschwinden des Meerschweinchens beschäftigte Mira. Hatte es sich einfach aus dem Staub gemacht oder hatte es vielleicht ein schwarzer Zauberer aufgestöbert und mitgenommen?
Oder war es mit dem Pulver bestreut worden und hatte einfach mit der Zeit vergessen, dass es eigentlich ein verwandelter weißer Zauberer war? So wie das alle Zauberer vergaßen, die mit dem verhängnisvollen Pulver der schwarzen Hexe in Berührung kamen.
Auch vermisste Mira seit einiger Zeit die hübsche graue Katze, die es sich immer auf der Betonkugel neben der Hausmauer bequem machte und über alles Wache zu halten schien. Seit es angefangen hatte zu schneien, hatte Mira sie nicht mehr gesehen. Mira fragte sich, wohin sie sich verkrochen haben mochte und ob sie dort wohl genug zu fressen bekam und es warm hatte.
Gerne hätte Mira mit Miranda und Rabeus über das Verschwinden der Tiere gesprochen. Doch von beiden hatte sie lange nichts gehört. Die Freunde waren zu Milena und Corrado in das Haus der Hexe Fa gezogen und hatten die Kugeln mitgenommen.
Manchmal, wenn Mira sich vor dem Spiegel die Zähne putzte oder ihren Wintermantel zuknöpfte, dachte sie daran, dass Rabeus und Miranda sie heimlich durch die Fernsichtkugel beobachten konnten. Dann streckte sie ihnen im Spiegel sicherheitshalber die Zunge heraus und schnitt eine Grimasse.
Auf der anderen Seite war sie sich fast sicher, dass ihre Freunde die Kugel nicht zum Spaß verwenden würden. Dafür war die Lage, in der sie sich befanden, zu ernst.
Viel zu ernst.
Es war Vormittag, ein trüber Wintertag, an dem sich die Sonne noch nicht gezeigt hatte. Vor dem milchigen Himmel wirbelten dunkle Flocken, die sich wie weißer Puder auf die verharzten Schneereste legten. Mira schob ihr Fahrrad, das mit zwei großen Wäschesäcken behängt war, durch den Schnee. Die Säcke waren gleich schwer, sodass sie sich auf der Lenkstange die Waage hielten. Der Schnee knirschte unter den Sohlen ihrer Winterstiefel, als sie die viel befahrene Straße entlanglief, an deren Ende sich ein Waschsalon befand.
Draußen war es so kalt, dass es fast schmerzte. M ÜNZWASCHSALON stand in roten Buchstaben über einem Laden mit großen, beschlagenen Fensterscheiben.
Früher, als sie gerade angefangen hatte, lesen zu lernen, hatte Mira immer gedacht, dort würden in riesigen Maschinen schmutzige Münzen
Weitere Kostenlose Bücher