Mira und das Buch der Drachen (German Edition)
kalten Winden tragen. Die Eiskristalle wehten ihr entgegen, kalte Nadelspitzen, die sich tausendfach in ihr Gefieder bohrten. Und doch spürte sie keinen Schmerz. Es war viel zu schön, in der Luft zu schweben undvon den Winden mitgenommen zu werden. Wie leicht sie war! Wie klar sie alles sehen konnte! Ihre Freunde waren neben ihr und alles fühlte sich so leicht und erhaben an. Miranda machte einen kleinen Purzelbaum in der Luft. Rabeus schlug mit seinen großen schwarzen Flügeln. Während sie flog, vergaß Mira Thaddäus und das Buch. Sie vergaß ihr Zuhause, sie vergaß ihre Aufgabe. Die Welt war nur weiß, sie war Wind und Schnee und gleißendes Sonnenlicht. Sie war ein Vogel! Ach, könnte sie nur für immer ein Vogel sein!
Unter ihnen lag der Fluss. Ein langes grünes Band, das sich durch die weiße Landschaft zog. Sie flogen über die Gleise der Züge, über weiß gepuderte Wälder, glitzernde schneebedeckte Wiesen und kleine Dörfer, deren schwarze Kirchtürme sich über den weißen Dächern erhoben. Kahle Bäume warfen lange Schatten auf den Schnee. Autos blitzten in der Sonne. Rauch stieg aus den Schornsteinen. Der Fluss teilte sich nun in viele dunkle, gewundene Arme, die die Stadt vor ihnen in ihren Griff zu nehmen schienen.
Schwarzburg! Am Rande der Stadt ragte die Burg mit ihren beiden hohen Türmen auf. Die Fahne mit dem Wappen der Burg, einem Doppelwesen aus Krähe und Drache, wehte an der Spitze des Turms. Mira und ihre Freunde flogen einmal um ihn herum. Die Mauern waren hoch und die Zinnen blinkten in der Wintersonne.
Doch als sie in der Altstadt ankamen, schoben sich Wolken vor die Sonne.
Der Schnee auf den vielen verschachtelten Dächern sah plötzlich grau aus, und die Freunde gerieten immer wieder in Rauchschwaden, die aus den zahllosen Kaminen wehten. Als sie wieder freie Sicht hatte, bemerkte Mira das Gewirr der Gassen unter sich, durch das sich, wie die feinen Adern eines Menschen, das eilige schwarze Wasser zog. Eiskalte Winde fuhren durch die Straßen und ließen die Menschen in ihren Häusern verharren. Einsam drehte sich die blecherne Krähe über dem Haus der schwarzen Hexe. Mira war die Stadt plötzlich fremd. Und so glücklich sie sich zuvor gefühlt hatte, so traurig war sie plötzlich geworden. Es war anders, durch die Stadt zu streifen, nachdem sie in Tante Lisbeths ordentlichem Bett übernachtet hatte. Jetzt hatte sie auf dem harten Boden in Thaddäus’ Baumhaus geschlafen und fühlte sich mit einem Mal auch in Schwarzburg heimatlos.
Sie flogen über den Rathausplatz. Wo sich im Sommer noch prall gefüllte Obstkisten unter den bunten Schirmen auf demObstmarkt getürmt hatten, war jetzt nichts als das Muster der grauen Pflastersteine zu sehen, das am Rand von verschmutzten Schneehaufen eingesäumt wurde. Über den Platz wachte Neptun. Er trotzte als Einziger den Winden, während seine Meerjungfrauen und der kleine Seedrache unter einer Holzverschalung verschwunden waren.
»Wartet!« Miranda flatterte auf den Kopf der Brunnenfigur. Mira und Rabeus landeten auf der Holzverschalung. Das Wasser war abgestellt, und dort, wo man im Sommer das quirlige Sprudeln gehört hatte, zerrte nun nur der Wind an den Holzbrettern. Auf Neptuns muskulösem Bronzekörper lag Schnee. Er bedeckte die Schultern, die lockigen Haare und steckte zwischen den Zinken des Dreizacks. Der Meeresgott sah noch verdrießlicher aus als beim letzten Mal, als Mira ihn gesehen hatte. Ob er immer noch an seinen Schachzug dachte? Vielleicht war er auch gerade dabei, seine Partie mit Lord Nelson zu verlieren.
Mira sah zu der Brunnenfigur auf, doch die verzog keine Miene. Ohne den Zwerg konnte sie sich nicht mit ihm unterhalten. Und selbst dann wäre es sicher noch unter Neptuns Würde gewesen, mit ihr zu sprechen. Umso mehr, da sie jetzt nicht einmal ein Mensch, sondern nur eine Amsel war.
Die Freunde warteten eine Weile in der Kälte. Mira plusterte ihr Gefieder auf, um sich warm zu halten. Rabeus verbarg sich hinter dem Dreizack. Mit seiner einzelnen silbernen Feder war er für schwarze Zauberer zu leicht zu erkennen.
Ab und zu hasteten Fußgänger über den Platz. Vermummte Gestalten, die sich beeilten, schnell wieder in die Wärme der Häuser zu kommen. Am Himmel zogen sich die Wolken weiter zusammen. Der Tag, der so strahlend begonnen hatte, wurde nun immer trüber. Wie er wohl enden würde?
»Seht mal da unten!«, hörte sie plötzlich Mirandas Stimme. »Den kennen wir doch!«
Eine schlaksige, hoch
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